Früh am Morgen ist es richtig kalt. Vor uns liegen 25 Kilometer bis zum nächsten Wasser. Jeder trägt einen Liter. Das muss reichen. Ruckzuck sind wir auf über 2800 Metern Höhe. Es wird noch kühler. Mittags kommen wir in ein Gebiet, das auf unserer Karte mit roten Ausrufezeichen versehen ist. Achtung, gefährlich ! Vor allen Dingen hält so ein schlechtes Gelände auf.

Im August 2023 hat der Hurricane Hilary die ganze Region verwüstet. Die Wände dieser Schlucht sind über weite Strecken eingestürzt. Erde, Steine und Baumstämme sind in das Flussbett des Mission Creeks abgerutscht. Der Trail wurde zugeschüttet, und seitdem gibt es keinen einheitlichen Weg mehr. Ich überlasse Thomas die Führung, denn der ist ein ausgezeichneter Pfadfinder. Die ersten zwei Stunden ist das Suchen und Finden sehr anspruchsvoll. Keine Spur, der wir folgen können. Wir laufen zunächst im trockenen Flussbett, holprig und stolperig. Zwischendurch muss man ein Stück den Abhang hochklettern, an anderer Stelle wieder hinunter und weiter durch’s Geröll. Mit Glück sieht man oberhalb der ausgewaschenen Schlucht manchmal ein Stück vom alten PCT und kommt dort ein bisschen schneller voran. Lohnt sich aber nicht wirklich, denn meistens hört der Pfad nach ein paar Hundert Metern auf. Weggespült von den Fluten oder zugeschüttet durch den Sturm. Dann heißt es wieder Absteigen und weiter durch das unwegsame Gelände fummeln. Das ist sehr zäh, anstrengend für die Füße. Am Ende des Tages spürt man jeden Stein, und es ist noch lange nicht vorbei.

Zwischen Anfang und Ende dieser Strecke liegen 40 Kilometer, also mehr als unser gewöhnliches Tagewerk. Damit geht mein Plan für die kommende Woche wahrscheinlich nicht mehr auf. Das Dumme ist, dass wir hier im Canyon nur mit Tageslicht laufen können. In diesem Geröll und bei den vielen Überquerungen werden wir im Dunkeln auf gar keinen Fall weiterstolpern. Außerdem müssen wir noch eine geeignete Stelle für unser Nachtlager finden. Ungefähr der 10. anvisierte Sandfleck geht so einigermaßen. Das wird passend gemacht. Leider haben wir dadurch schon um kurz nach 18.00 Uhr Feierabend, obwohl wir viel lieber noch ein paar mehr Meilen machen würden. Nur zwei Meter neben unserem Zelt rauscht der Mission Creek vorbei. Ein schönes Geräusch zum Einschlafen.
Heute in einem Monat fliegen wir auf die Kanaren und können uns erholen. Endlich Urlaub ! 😉


Wunderbare Nacht mit dem Plätschern des Baches im Hintergrund. Um 6.30 Uhr wird es hell. Wir starten mit dem ersten Tageslicht. Ein einzelner Baum hat dem Unwetter getrotzt und kräftig Widerstand geleistet. Irgendwie hat er den Hurrikan schadlos überstanden und steht da nun ganz alleine mitten in der Geröllwüste.

Es geht stundenlang weiter durch die Schlucht. Manchmal steigen wir den Hang hinauf, weil ein Stück Weg zu sehen ist, aber die Freude währt nie lange. Dann müssen wir wieder abwärts über Felsen und den bestmöglichen Weg suchen. Dabei steigen wir kontinuierlich tiefer, und der Fluss wird immer breiter. Kalifornische Wasserbirken säumen den Mission Creek zu beiden Seiten wie ein Spalier.


Ungefähr 50 mal geht es über den Bach, immer hin und her. Dabei sind nasse Füße unser geringstes Problem. Manchmal ist es gar nicht klug, bei der ersten Sichtung eines Pfades aus dem Canyon zu klettern. Es kann sein, dass die Spur plötzlich an einer Abbruchkante endet, die so steil ist, dass wir umkehren müssen und wieder ins Flussbett mit Geröll. Sehr langsames Vorwärtskommen. Das passt mir überhaupt nicht in den Kram, weil ich jeden Tag die Meilen zähle und rechne, wann wir wohl ankommen werden.
Um 12.00 Uhr sind wir aus dem Gröbsten heraus. Kurze Zeit später entdecken wir einen Pfad, der anscheinend nach oben in die Berge führt. Tatsächlich ist es ein durchgängiger Weg, der sich den Hügel hinauf windet. Das muss der PCT sein. Juchhu – wir haben es geschafft ! Aufstieg in der Mittagshitze. Kein einziger Baum in Sicht, der Schatten spenden könnte. Das rechte Knie von Thomas macht sich schmerzhaft bemerkbar. Die letzten zwei Wochen wird er seine Kniebandage tragen müssen. Am Whitewater River bekommen wir Wasser und machen eine schöne Pause am „Sandstrand“. Dieser Fluss hat starke Strömung und ist herrlich kalt. Trinken, Trinken, Trinken. Außerdem eine willkommene Gelegenheit, die Füße zu waschen und Beine zu kühlen.

Wir kommen an einem Wegweiser vorbei, auf dem das Whitewater Preserve in 0,5 Meilen Entfernung angegeben ist. Darunter steht groß geschrieben der Zusatz „Hikers welcome !“ Sehr gut, das gucken wir uns an. Früher war es eine Aufzuchtstation für Forellen, heute ein Reservat mit Besucherzentrum. Für uns nur ein kleiner Umweg, der wunderbar angelegt ist. Mannshohe Steinmännchen, ein gut gepflegter Sandweg, und über dem Fluss liegt sogar eine Holzbrücke. Wir werden freundlichst empfangen. Zelten ist kostenlos im Park auf der Wiese, sogar mit Picknicktisch. Richtige Toiletten gibt es, Frischwasser zum Trinken, Mülltonnen, Steckdosen außen, um die Elektrogeräte zu laden. Super-nett ist der Mann, der uns das alles aufzählt. Schon sehr verlockend, einfach hier zu bleiben. Aber es ist erst 16.30 Uhr, das ist noch viel zu früh, um den Tag zu beenden.

Uns hat der Eifer gepackt …. oder besser : Wir wollen ankommen ! Hatten uns noch mindestens 15 Kilometer vorgenommen, und das schaffen wir auch. Wir sind bis 21.00 Uhr unterwegs. Die letzte halbe Stunde schleppen wir uns auf der Falls Creek Road mühsam dahin. Die Füße sind wund. Unser Ziel ist ein Wasserspender direkt vor einem dicken Aufstieg, den wir morgen früh in Angriff nehmen werden. Zwei Schilder hängen an der Säule, auf englisch und auf spanisch, mit der deutlichen Warnung : „Kein Trinkwasser“. Für uns ist es das trotzdem.
Oberhalb unseres Zeltplatzes sehen wir zwei weiße Lichter am Hügel tanzen. Da sind noch Hiker unterwegs. Ob das Shortcut und Houdini sind ? Kurze Anfrage per WhatsApp …. Ja, das sind sie. Die Beiden sind uns jetzt nur noch 2-3 Stunden voraus.

Die Blase bei Thomas unter dem Fuß ist schlimmer geworden und schmerzt. Sie wird mit Moleskin gepolstert und mit Hansaplast überklebt. Außerdem hat er zwei blutige Zehen. Gestern wohl doch ein bisschen zu viel gelaufen. Das Knie …. naja …. mit Bandage geht’s. Meine rechte Schulter tut weh, und das schon seit Mammoth Lakes, von wo wir mit 7 Tagen Proviant gestartet sind. Mittlerweile ist das ungefähr 6 Wochen her. Es wird nur am off-day besser, also beim Nichts-Tragen. Wir nehmen vier Liter Wasser mit über die Berge. Unser nächstes Ziel ist Idyllwild in 42 Kilometern. Bis dahin liegen 3200 Höhenmeter Aufstieg vor uns. Beide haben wir keine große Lust auf die massive Hügelkette voraus.
Am Eingang zum Trail steht ein großes Schild. Man darf den Weg nicht verlassen und soll auf gar keinen Fall querfeldein gehen. Trauriger Hintergrund der Geschichte : Im Jahr 2024 ist tatsächlich ein PCT-Hiker tödlich verunglückt, weil er eine Abkürzung genommen hat, um nicht alle Serpentinen laufen zu müssen. Westlich von uns liegt rötlicher Dunst über den Hügeln. Es brennt irgendwo in der Ferne. Der Wetterbericht spricht von schlechter Luftqualität. Eine Eidechse klettert senkrecht an einem Felsen hoch. Auf einem Stein neben dem Weg liegt eine tote Spinne. Meine Tarantula letztens war viel größer und sehr lebendig.

Der Pfad am Hang wird immer schmaler und ist ziemlich zugewachsen. Vorerst nicht mit Stachelzeug, sondern mit weichen Binsen. Aber je höher wir steigen, umso dorniger wird das Kraut an den Seiten. Ein Pfahl zeigt an, dass wir die 200-Meilen-Marke geknackt haben. Das ist doch ein Grund zum Freuen ! Nur noch ca. 320 Kilometer bis nach Campo an der mexikanischen Grenze. 🙂


Am Nachmittag erleben wir tatsächlich eine Rettungs-Aktion per Hubschrauber aus nächster Nähe. Der fliegt zunächst etwa eine halbe Stunde über die Berggipfel, wie um die Unfallstelle zu lokalisieren. Dann bleibt er lange immer an der gleichen Stelle in der Luft stehen. Anscheinend wartet der Hubschrauber, bis die Rettungsmannschaft unten den Verunglückten versorgt hat. Zum Schluss wird ein Seil mit einer Tragevorrichtung aus dem Hubschrauber herabgelassen und die verletzte Person hochgezogen. Gruselig. 🙁 Shortcut und Houdini fallen uns ein, aber die sind zum Glück wohlauf. Ein entgegenkommender Wanderer hat unsere Freunde vor etwa drei Stunden getroffen. Wir unterhalten uns eine Weile mit ihm, und sein Schlusswort ist „Don’t vote for Trump !“ Klasse. Wieder einer, der Farbe bekennt und es wagt, den Mund aufzumachen. Das haben wir in diesem Jahr schon öfter erlebt. Niemand hat anscheinend diesen Präsidenten ins Weiße Haus gewählt, zumindest nicht die Wanderer oder die Leute, die uns beim Trampen mitnehmen. Eine Lady an der Rezeption vom Motel nannte ihn ironisch „the orange Genius“. Und unser Freund Karl aus Bellingham war letztens auf einer Demo „Wir brauchen keinen König.“ Die Amis sind einfach köstlich. 😉

Um 18.00 Uhr haben wir den höchsten Punkt erreicht und sind 2100 Höhenmeter aufgestiegen. Meine Beine wollen nicht mehr. Aber wir haben erst 15 Meilen geschafft und müssen noch zwei Stunden weiter durchhalten, um unseren Schnitt zu halten. Das nächste Ziel ist, am Samstag bis 13.00 Uhr in Warner Springs zu sein, um unser Paket abzuholen. Wenn wir es nicht bis zur Schließungszeit der Post schaffen, dann haben wir uns umsonst beeilt und hängen das Wochenende über in einem Dorf fest, wo es noch nicht einmal einen Laden gibt. Wir laufen im Dunkeln eine blaue Route und landen auf einem namenlosen Campingplatz. Tatsächlich haben wir den ganzen Tag über keinen Tropfen Wasser gefunden. Die vier Liter vom Start am Morgen sind weg. Es gibt leider kein warmes Essen und keinen Kaffee am Morgen. 🙁

Der Wecker klingelt um 5.00 Uhr, denn es wird jetzt anscheinend eher hell. Unsere Handys zeigen eine Stunde früher an als die Armbanduhren. Sehr merkwürdig. Heute geht es schon wieder in die Zivilisation. Etwa 15 Kilometer liegen vor uns bis nach Idyllwild. Wir haben Hunger und Durst. So läuft man schneller. 😉
Spätes Frühstück im Red Kettles mit viel Kaffee. Immerhin sind wir bereits 5 Stunden ohne Essen und Trinken gelaufen. Picky und Lunch sitzen auch da. Letztes Treffen war bei McDonald’s, und schon wieder gibt es viel zu erzählen. Außerdem lernen wir Paul kennen, einen ruhigen unauffälligen Wanderer. Er hat noch keinen Trail-Namen und möchte auch keinen haben. Wir müssen nur einen kleinen Einkauf für 2-3 Tage machen, da wir immer noch davon ausgehen, das Post Office in Warner Springs rechtzeitig zu erreichen. Hiker-freundlich ist das hier. Was ist bloß los mit den Leuten ? Wir werden überall angesprochen und hofiert. Gratulation zu unserem PCT-Hike, der ja noch gar nicht ganz fertig ist. Mehrmals bekommen wir eine Fahrt angeboten. Verschiedene Trail Angel offerieren Dusche, Waschmaschine und Übernachtung. Nein danke, wir möchten weiter.

Im Supermarkt treffen wir Paul noch einmal und quatschen lange. Er hat eine kostenlose Unterkunft für die Nacht bei einem Trail Angel gefunden. Wir erledigen die wichtigsten Dinge im Internet, buchen Flug und Hotel, gehen nochmal essen …. So wird es Nachmittag, bis wir den Absprung schaffen. Trampen diesmal nicht zurück, sondern suchen uns einen Weg zu Fuß aus der Stadt. Am Ende landen wir auf einem sehr krausen Trail. Sandpiste mit tiefen Gräben, Geröll und stacheligen Sträuchern. Allerdings ist dieser Pfad nicht so zugewachsen wie der PCT, sondern angenehm freigeschnitten. Inzwischen haben wir herausgefunden, dass es wirklich eine Zeitverschiebung gibt. In Kalifornien gilt seit dem ersten Sonntag im November die „Day Saving Time“. Fakt ist : Es wird schon um 17.00 Uhr dunkel. Der Trail wird immer abenteuerlicher, und das schwindende Licht macht es nicht einfacher.
Um 19.00 Uhr erreichen wir einen Campingplatz, der anscheinend zu dieser Jahreszeit nicht mehr bewirtschaftet wird. Niemand da, es ist keine Parzelle besetzt. Wir sind ganz alleine und können uns den besten Platz aussuchen, haben sogar einen Picknicktisch ( und einen Grill ). Die Sanitäranlagen sind geöffnet und beleuchtet. Es gibt Wasser, Seife, Papierhandtücher, Münz-Duschen und Mülleimer. Ich wasche sogar zwei Teile im Waschbecken aus. Die Kommentare in unserer App sagen, dass die Übernachtung auf diesem Zeltplatz für PCT-Hiker kostenlos ist. Was will man mehr ? Der Name dieses Juwels : Hurkey Creek Park. Ein dicker Vollmond leuchtet am Himmel – für uns das letzte Mal auf dem PCT.

Nachts jaulen die Kojoten. Wahrscheinlich heulen sie den Mond an. Ich werde um 2.00 Uhr davon wach und kann nicht mehr einschlafen. Taghell ist es im Zelt. Wecker klingelt um 4.00 Uhr früh. Ja, wir sind eifrig dabei. Gestern haben wir die Nachricht bekommen, dass wir Großeltern geworden sind und spontan einen optimistisch frühen Flugtermin gebucht. 🙂
Vom Campingplatz aus marschieren wir über drei Stunden stramm bis zum Paradise Valley Café. Am Highway werden wir Zeuge, wie ein Tier angefahren wird. Der Wagen hält auf der Straße an, Türen offen und Warn-Blinklicht an. Dann laufen zwei Personen zum Zaun neben der Fahrbahn, rennen kurz darauf wieder zum Auto und fahren davon. Wir wechseln auf die andere Straßenseite, um zu schauen, was da los ist. Eine große Eule liegt auf dem Rücken und zappelt. Thomas hilft dem Vogel in eine bessere Position. Offensichtlich hat die Eule keine äußeren Verletzungen, wir können jedenfalls kein Blut erkennen. Hellbraun-weißes Federkleid, ein schönes Tier. Hoffentlich hat es nur einen kurzen Schlag abbekommen und ist etwas benommen. Wir können nicht helfen und laufen weiter.
Beim Frühstück erleben wir eine große Überraschung, denn unsere Freunde Shortcut und Houdini kommen plötzlich zur Tür herein. Seit Tagen schleichen wir umeinander herum, nun haben sie uns gefunden. Seit unserem Abschied in Ashland sind mehr als zwei Monate vergangen. Alle haben am 14.11. ihren Rückflug in drei verschiedene Richtungen. Wir möchten am 13.11. an der mexikanischen Grenze ankommen, weil wir noch ein Paket bei Shaggy in der Bar abholen müssen. Auch Paul sitzt im Paradise Valley Café und frühstückt. Der hat doch in Idyllwild bei einem Trail Angel übernachtet. Wie kommt der denn jetzt so schnell hierhin ?

Der PCT am Nachmittag ist ganz nett. Weißer Sand mit Steinen, nur ein leichtes Auf und Ab. Die Landschaft verändert sich und ähnelt immer mehr dem, wie wir uns die Wüste vorgestellt haben. Hier wachsen Kakteen in großer Anzahl und in allen möglichen Variationen. Einen Moment nur lehne ich meine Stöcker an einen Strauch, kurz darauf habe ich ein paar feine Stacheln in den Fingern. Jetzt ist der Weg nicht nur ein bisschen dornig, sondern man muss genau gucken, wohin man sich setzt.

Trail Magic Wasser an einer Schotterstraße. Sehr willkommen, denn es gibt wieder keinen Tropfen natürliches Wasser. Wir machen nur eine kurze Pause, denn schon um 16.00 Uhr müssen wir daran denken, dass es in einer Stunde dunkel wird. Der Pfad führt die letzten drei Stunden kontinuierlich abwärts. Das ist eindeutig die Klimazone der Kakteen. Immer wieder entdecken wir neue Formen, fast wie in einem botanischen Garten. Sieht sehr schön aus, und morgen bei Tageslicht wahrscheinlich noch besser. Lautes Grillen-Konzert begleitet uns.

Wir laufen bis zu einer Zisterne, die wirkt, als würde sie bald zusammenstürzen. Thomas muss sich bäuchlings hinlegen und die Arme ganz lang machen, um unsere Flaschen zu füllen. Das Wasser sieht bräunlich aus, und darin schwimmt alles Mögliche an lebenden und toten Tierchen. Unser Wasser zum Kochen und für den Kaffee am nächsten Morgen wird natürlich gefiltert. Eine halbe Stunde später entdecken wir einen perfekten Platz ohne Stacheln. An drei Seiten von Bäumen und Büschen umgeben und gerade ausreichend für unser Zelt. Wie in einem Separee. 🙂 Wir befinden uns nur noch auf 1100 Meter Höhe. Der Abend ist mild genug, um draußen zu essen.


Um 4.00 Uhr klingelt der Wecker. Ein Kaffee, dann geht’s los. Toller Sternenhimmel. Der fast volle Mond beleuchtet den Weg. Eine Stunde nach dem Start sehen wir den ersten Schimmer von Morgenröte im Osten. Wir stehen inzwischen richtig gerne früh auf. Es ist einfach fantastisch, den neuen Tag erwachen zu sehen. Noch 6000 Höhenmeter liegen in der nächsten Woche vor uns, dann sind wir fertig. Der Weg führt bergauf über die nächste Hügelkette, die San Felipe Hills. Und noch einmal zum Mitschreiben : Die Wüste in Süd-Kalifornien ist nicht flach. 😉

Unsere erste Etappe fängt ganz harmlos an. Einen Moment denke ich, ich könnte mich mit dem PCT aussöhnen. In der Frühstückspause um 8.00 Uhr haben wir bereits ein Viertel unseres Pensums geschafft. Guter Tagesbeginn. Nach der Pause wird’s leider wieder doof. Nur stacheliges Zeug und piekende Büsche zu beiden Seiten. Man kann den Weg am gegenüber liegenden Hang nicht erkennen, so dicht wuchert das Zeug. Shorts geht gar nicht, also schwitze ich mich kaputt in meiner langen schwarzen Hose. Mannshohe Dornenhecken, deren Widerhaken sich in Kleidung und Rucksack bohren. Ich fange an zu fluchen, denn nun zerkratzt es mir die Arme. Anhalten und ein langärmeliges Hemd anziehen, obwohl es so heiß ist. Nein, dieser Abschnitt gefällt mir gar nicht. Ganz nebenbei haben wir schon wieder 900 Höhenmeter Aufstieg.

Drei Stunden später erreichen wir die Chihuahua Road, wo eigentlich ein Water Cache sein sollte. Leider haben die Trail Angel wohl gerade nicht aufgepasst. Alle Flaschen sind leer. Große Enttäuschung im ersten Moment, aber die nächste Option ist viel besser. Ein kleiner Umweg zwar, aber es lohnt sich. Mike’s Place bietet drei volle Wassertanks sowie einige Tische und Stühle in Schatten. Auf einem Tisch steht eine Packung hartgekochter Eier ( mit Koch-Datum von gestern ) und eine Tüte mit Granola zum Knabbern. Das rettet uns den Tag. Trail Angel Mike sehen wir nicht, sein Häuschen steht ein bisschen weiter abseits. Vielen Dank !


Nachmittags wird die Landschaft etwas ansprechender. Sand mit Steinen durchsetzt, ein Paar dicke Boulder oberhalb des Trails. Ein älteres Paar kommt uns entgegen. Sie stammen aus Colorado, unserem allerliebsten Bundesstaat, und wandern jedes Jahr einen anderen Abschnitt vom PCT. Wir unterhalten uns eine Weile über alles Mögliche. Mitten im Gespräch sagt die Frau plötzlich : „We don’t vote for Trump.“ Das ist ja nicht zu fassen ! Die wählen ihn also auch nicht. Wir sind ziemlich erstaunt, weil es eigentlich ohne jeden Zusammenhang herauskam. Richtig cool. Die Leute stehen auf und bekennen Farbe.
Um Viertel nach fünf beginnen die Grillen zu zirpen. Die müssen durch die Zeitumstellung jetzt auch etwas früher anfangen. 😉 Ab halb sechs laufen wir mit Lampe. Sind jetzt schon über 12 Stunden unterwegs und rechtschaffen müde. Unterhalb des Trails fließt ein kleiner Bach, ein halbwegs gerader Platz befindet sich gleich daneben. Passt wunderbar. Mit Mond und Sternen sind wir am Morgen gestartet, und jetzt funkeln schon wieder Milliarden von Sternen am Himmel. Sehr schöne Nacht. 🙂 Wir zelten auf nur 1100 Meter Höhe.

Es ist warm am Abend und in der Frühe, was das Aufstehen sehr viel leichter macht. Gestern haben wir 38 Kilometer zurückgelegt, heute sind wir nur noch 10 Kilometer von Warner Springs entfernt. Es geht abwärts auf einem sandigen Weg, das bedeutet schnelle Meilen. Um 8.00 Uhr öffnet das Post Office. Wir sind bereits um kurz nach acht da. Eine sehr nette Frau begrüßt uns und gibt uns unsere Post. Da ist ein Paket mit Proviant für die letzten 5-6 Tage und eine Sendung von Amazon mit überaus wichtigem Fußpuder. Super – wir sind froh, dass beides angekommen ist ! Nebenan gibt es eine Tankstelle, die in unserer App gar nicht erwähnt wurde. Wir sind total begeistert, denn erstens ist die geöffnet und zweitens kann man da ein paar leckere Sachen kaufen. Kaffee, Cola, Kakao und Eis. Völlig unerwartet schmeckt es umso besser. 🙂
Die Post liegt etwas außerhalb. Wir laufen 2 Kilometer auf der Straße bis in den „Ortskern“. Ein Jeep hält an, und die junge Frau am Steuer fragt, ob sie uns irgendwohin fahren kann. Nein, wir dürfen nicht einsteigen. Wir möchten jeden Schritt zu Fuß von Kanada bis Mexiko laufen, damit wir die Triple Crown verdienen. Trotzdem danke für das Angebot. Die Leute in Süd-Kalifornien mögen anscheinend die Hiker. Alle sind total freundlich und hilfsbereit.
Unsere nächste Anlaufstelle ist das Community Center, bekannt dafür, dass es die PCT Hiker unterstützt. Hier haben wir eine längere Pause geplant, um deren Internet zu nutzen und unsere Geräte zu laden. Im Gebäude soll es eine Hiker-Box geben, da kommen wir aber nicht dran, weil am Wochenende geschlossen ist. An der Tür hängt eine Telefonnummer, die man anrufen kann, wenn man irgendwohin gefahren werden möchte oder sonst irgendetwas braucht. Nein, so nötig haben wir es nicht, dass wir die Freiwilligen am Wochenende stören. Im Schatten stehen Picknick-Tische. Außerdem gibt es Trinkwasser, Mülleimer, genügend Steckdosen im Außenbereich. Der WLAN-Schlüssel steht auf einem Zettel. Toiletten und Duschen sind geöffnet. Shampoo, Seife, Bodylotion sind ausreichend vorhanden. Waschbecken und Eimer stehen für die kleine Handwäsche zur Verfügung. Alles ist kostenlos, Spenden kann man in eine Metalldose einwerfen. Was für eine tolle Anlage ! Wir bleiben über zwei Stunden. 🙂
Vor uns sehen wir die nächste Hügelkette. Das sind die San Felipe Hills. Ohne Anstieg geht es nicht, auch die letzten Tage bleiben ein ständiger Kampf. Inzwischen haben wir das Gefühl, dass wir echt schlapp geworden sind. Vielleicht befinden wir uns schon im Stadium des Muskelabbaus wegen der schlechten Ernährung.
Zwei knallblaue Vögel hüpfen und flattern in den Bäumen vor uns. Das ist der „Scrub Jay“. Diese Farbe ist so ungewöhnlich in dieser tristen Landschaft. Echt ein Hingucker, auffälliger geht’s nicht. 🙂
Vor uns in einer Mulde liegt eine kleine Klapperschlange. Diese ist nicht besonders aggressiv. Sie rasselt noch nicht einmal, als Thomas sie mit Sand verwirft. Es kommt etwas Bewegung in die Schlange, sie schleicht sich davon und verschwindet unter einem Stein.

Am Scissors Crossing soll es ein Wasser-Depot geben. Wir finden es nicht sofort und laufen mit dem Handy in der Hand den Weg ab. Stockfinster ist es. Der Mond geht heute erst spät auf. Mittlerweile ist es 20.00 Uhr, es wird langsam Zeit für Feierabend. Die Füße sind platt. Unter einer Brücke finden wir ca. 20 volle Kanister Trinkwasser. Wir hatten es gehofft und trotzdem vorsichtshalber 2 Liter bis hierhin getragen. Zwei Sessel stehen zwischen Wasserkanistern und Abfallbehältern. Wunderbar ! Was für ein toller Trail Angel. So können wir ganz bequem kochen und essen. Wir stellen das Zelt direkt unter der Brücke vom Highway auf. Schöner Sandboden, völlig gerade, sauber ist es auch. Der Verkehrslärm lässt sich nicht vermeiden. Die Autos würde man auch hören, wenn man neben der Brücke zeltet. Ratten gibt’s hier. Die randalieren überall, wie wir beim Essen festgestellt haben. Egal, das muss heute so gehen. Müde genug sind wir, außerdem 43 Kilometer weiter.

