Wir segeln und wandern durch die Welt

AT 3. Woche Gorham – Andover / Maine

Start mit Hindernissen. Zunächst marschieren wir 3 Kilometer bis zur Bücherei, wo wir freien Zugang zu Computern haben. Thomas hofft, dass er dort die Probleme mit unserer Homepage beheben kann. Leider Fehlanzeige, es ist immer noch keine Lösung in Sicht. 

Danach gehen wir ein Stück weiter in Richtung Stadt, stellen uns an den Straßenrand und hoffen, dass uns bald ein Auto mitnimmt. Nach etwa 10 Minuten hält eine Frau, die selber eine Herberge für Wanderer betreibt und anscheinend weiß, wo wir hin möchten. Sie fährt nur eine kurze Strecke bis zu einem Wander-Parkplatz, wo der AT kreuzt. Aber nein ! Hier sind wir verkehrt. Es gibt einen weiteren AT-Trailhead. Wenn wir so nahe bei Gorham wieder eingestiegen wären, dann hätten wir 40 Kilometer Entfernung gespart. Wir möchten aber nichts auslassen, sondern jeden Meter laufen. Sonst ist es für unseren Kopf nicht „richtig“. Zum Glück kennt die Dame sich aus und kann unseren Erklärungen folgen, dass wir zu einem anderen Trailhead des AT wollen. Es war tatsächlich unser Fehler. Wir sind zu weit über die richtige Kreuzung hinausgelaufen und haben an der falschen Straße gestanden. Wie dumm von uns ! Die Dame zögert keinen Moment, sie dreht einfach um und bringt uns zur Pinkham Notch. Das sind mal eben 20 Kilometer in die eine Richtung und dasselbe wieder zurück, weil sie mitten in Gorham wohnt. Wir treffen einfach immer nur tolle Menschen, diese Hilfsbereitschaft im Land ist unbeschreiblich.

Beim Visitor Center an der Pinkham Notch kehren wir ein, weil wir noch einen Kaffee trinken möchten, bevor wir der Zivilisation den Rücken kehren. Mit unserem AT-Hiker-Pass soll es hier für uns Suppe mit Brot zum Sonderpreis von 2,- Dollar geben. Die Bestellung gestaltet sich schwierig. Das Mädel an der Kasse kann so gar nichts mit unseren orangenen Karten anfangen, da wir die ersten AT-Hiker in diesem Jahr sind. Nachdem sie endlich begriffen hat, was ich möchte, kann sie die zwei reduzierten Suppen nicht an ihrer Kasse eingeben. Den Artikel gibt es nicht mit Hiker-Discount in ihrem elektronischen Kassensystem. Sie fragt eine Kollegin, telefoniert mit einem weiteren Kollegen, läuft dann in den Keller, um noch Jemandem zu fragen …. Schwierig, schwierig – aber immer freundlich. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, dann bekommen wir doch noch unsere Suppen mit Brot für 2,- Dollar pro Person. Beim Essen stellen wir fest, dass das Schweizer Taschenmesser von Thomas nicht an seinem Platz ist. Er sucht überall und findet es nicht. So ein Mist ! Entweder hat er es in der Bücherei vergessen oder beim Trampen im Auto verloren. Sehr schade um das gute Stück.

Um 14.30 Uhr kommen wir endlich los. Gleich beim Start fallen ein paar Regentropfen, aber das hat sich zum Glück nach ein paar Minuten wieder erledigt. Zu viel Faulenzen und Völlerei tun uns gar nicht gut. Nach zwei Tagen Herumhängen im gemütlichen Zimmer mit Heizung und Fernseher fühlen wir uns träge und unbeholfen. Der Anfang nach einem Stadt-Aufenthalt fällt meistens schwer. Dazu kommt, dass der volle Rucksack mit Proviant für 5-6 Tage mich fast niederdrückt. Sofort geht unser Weg heftig bergauf. Aus Laufen wird schon nach kurzer Zeit anstrengendes Klettern. Ich schaffe es kaum, mich an den glatten Felsen hoch zu hangeln. Fühle mich etwas kurzatmig ( oder habe einfach zu viel gegessen ). Der Aufstieg ist zäh. Immerhin liegen 800 Höhenmeter vor uns. An besonders steilen Felswänden sind hölzerne Stufen angebracht. Ohne hätte man auch keine Chance, dort hinauf zu kommen, außer man heißt „Spiderman“.  Schon bald zwickt es in den Waden. Es ist total mühsam, wieder in den richtigen Rhythmus zu finden. Erst nach drei Stunden sind wir eingelaufen, die Gelenke werden weich und beweglicher. Ein paar kleine Schneefelder zwischen den Bäumen sind hoffentlich die Reste vom Winter. Wo das weiße Zeug kürzlich erst weggeschmolzen ist, da stapfen wir durch Matsch. Oben angekommen laufen wir eine ganze Weile auf dem Grat, wo es sehr windig und kalt ist. Leichter Schneegrissel fällt an den exponierten Stellen auf uns. Hier gibt es die besten Ausblicke, ist allerdings bitterkalt.

Das Ski-Gebiet des Wildcat Mountain breitet sich vor uns aus. Dort liegen mehrere Gipfel kurz hintereinander, Ski-Loipen und eine Bergstation mit Ski-Lift. Auf dem zweiten Gipfel machen wir Halt. Dort steht ein Häuschen der Berwacht, daran erinnern wir uns von 2012. Wir haben Glück, die Tür ist auch diesmal unverschlossen. Sehr nett. Wir denken, dass diese Hütte extra für die Wanderer offengelassen wird, als Schutzhütte und Not-Unterkunft bei plötzlichem Wetter-Umschwung. Über uns steht eine dicke Wolkenwalze am Berg und bewegt sich nicht. Das sieht dunkel und bedrohlich aus. Unser schlechtes Gewissen ist nicht besonders groß. Zelten in dieser Höhe bei Sturm und hoher Regen-Wahrscheinlichkeit tun wir uns nicht an. Wir bleiben die Nacht über hier, da kann es draußen toben und regnen, so viel es will. Meine Schuhe sind noch trocken – ich bin sehr begeistert. Thomas – neugierig wie immer – erkundet die nähere Umgebung und findet eine intakte Dose Budweiser. Die muss wohl aus dem Ski-Lift gefallen sein und ist jetzt unversehrt zum Vorschein gekommen, wo der Schnee gerade geschmolzen ist. Das Bier werden wir etwas anwärmen, sonst geht es bei diesen eisigen Temperaturen nicht runter. Mit Isomatte und Schlafsack richten wir uns auf dem Boden ein. Es wird schon um 19.00 Uhr richtig gemütlich.

Das Häuschen der Bergwacht ist richtig dicht, es zieht kein Lüftchen hindurch. Draußen stürmt es ordentlich, wir lauschen dem Getöse und kuscheln uns tiefer in die warmen Schlafsäcke. Eine sehr angenehme Nacht mit 10 Stunden Tiefschlaf. 

Vom Gipfel E des Wildcat Mountains, auf dem wir übernachtet haben, steigen wir direkt wieder tief hinab. Dann geht es steil bergauf zum Gipfel D, wo wir von einer Aussichts-Plattform einen schönen Rundum-Blick genießen können. Eingebaute Holz-Stufen, die an besonders schrägen Passagen in den Felsen montiert sind, erleichtern so manche steile Wand. Abwärts auf schroffen Felsen, alles noch etwas holperig heute morgen. In der Senke zwischen den Gipfeln liegt Schnee. Bretterstege sollen den Weg leichter begehbar machen, aber die liegen entweder unter Schnee oder sind unter Wasser versunken. Weiter geht das Gekletter über Gipfel C und Gipfel A. Warum muss es dazwischen bloß immer so tief ins Tal gehen ? Auf der Nordflanke liegen weitere Schneefelder vor uns. Nach 2,5 Stunden erreichen wir die letzte Hütte vom Appalachian Mountain Club. Die Carter Notch Hut liegt etwas abseits vom Trail, aber der kleine Umweg lohnt sich. Sehr idyllisch zwischen zwei Seen, in denen man im Sommer bestimmt schwimmen kann. Schöne, kleine Hütte, die urgemütlich eingerichtet ist. Keine Leute, die einzigen vier Gäste sind gerade unterwegs auf Wandertour. Ein netter junger Mann begrüßt uns mit frisch gebackenem Blaubeer-Kuchen. Damit hat er schon mein Herz gewonnen. Kochendes Wasser für unseren Kaffee bekommen wir natürlich auch. Sehr schöne Pause. 

Die nächsten hohen Gipfel sind der Carter Dome mit 4832′ Fuß und der Mount High mit 4671′ Fuß Höhe. Eine Gardener Snake liegt direkt vor uns auf dem Weg. Was machen diese Schlangen bloß hier, wo es doch noch eiskalt ist ? Diese ist erstaunlich aktiv und schlängelt flink seitlich in die Büsche. Die Sonne scheint. Das Gestein glitzert silbern. Der Name „White Mountains“ kommt von den hellen Granitfelsen, die zudem die meiste Zeit des Jahres schneebedeckt sind. Knackig kalte Luft, dazu phantastische Aussicht in alle Richtungen. Nach einem anstrengenden Aufstieg führt der Trail sogleich wieder hinab. Im Tal erwartet uns Waldweg mit Wurzeln, Pfützen, Steinen, Schnee, querliegende Bäume und Sumpf. Nur einmal richtig daneben getreten, und schon sind die Schuhe nass. Da gibt es noch sehr viel zu tun für das Forstamt, um den Weg für die Wanderer frei zu räumen. Weiter geht es durch eine schmale Gasse zwischen niedrigen Nadelbäumen. Ein Schild weist darauf hin, dass wir uns wieder in der Alpinen Zone befinden. Ja, das haben wir schon selber gemerkt. Mount High bietet eine tolle Aussicht auf die Berge, die noch vor uns liegen. Das sieht nach schwerer Arbeit aus, da müssen wir in den nächsten Tagen drüber. Durch eine steile Schlucht kraxeln wir vom Gipfel hinunter. Thomas stellt sehr treffend fest, dass wir heute noch keinen leichten Meter gelaufen sind. Stimmt, das ist wohl wahr. Es kann nur besser werden. Am Nachmittag läuft es endlich etwas geschmeidiger. Ungefähr eine Stunde lang folgen wir einem Waldweg, auf dem dieses Jahr bereits aufgeräumt wurde. Die schmale Spur wurde grob freigeschnitten, umgestürzte Bäume zersägt, die größten Hindernisse vom Trail entfernt. Nur den Schnee haben die Forstarbeiter leider nicht weggeräumt. So viel Schnee ! Wir können es kaum fassen. Vor ein paar Tagen haben wir noch gedacht, wir wären damit endlich durch. Aber in dieser Region sehen wir Schnee, soweit das Auge reicht. So viel hatten wir seit dem Mount Mooselauke nicht mehr, und das war am Ende unserer ersten Woche. Man könnte glatt noch Ski-Fahren. Wir laufen über bis zu 2 Meter hohe Schneewälle. Den Schäden an den Bäumen nach zu urteilen, war die weiße Pracht im Winter, der noch nicht lange her ist, ungefähr 4-5 Meter hoch. Die letzten 3 Kilometer wird es nochmal richtig fies. Der Carter Mountain hat gleich zwei Gipfel mit phantastischen Ausblicken. Alles bei blauem Himmel und Sonnenschein, wir können unser Glück kaum fassen. Immer wieder werden wir für unsere Strapazen mit atemberaubenden Weitblicken belohnt. Heute haben wir viele hohe Berge erklommen, hoch und hinunter. Nun müssen wir allerdings auf sehr kurzer Strecke 500 Höhenmeter tiefer kommen. Das bedeutet steile Felsen, fast senkrechte Wände, die wir irgendwie hinunter rutschen. Das erste Mal, seit wir auf dem AT unterwegs sind, muss ich tüchtig vor mich hin schimpfen. Das sieht gar nicht vertrauenerweckend aus. Ich will da nicht runter. Keine Stufen, keine Seile, nur glatte Steinwände, an denen auch noch Wasser herunterrinnt. Meistens nehmen wir die Bäume, die seitlich am Abhang stehen, zur Hilfe. Manchmal setze ich mich einfach auf den Hintern und rutsche ein Stück tiefer. Sieht bestimmt nicht elegant aus, aber unverletzt unten ankommen ist die oberste Priorität. Es geht nur im Schneckentempo voran, weil wir wirklich vorsichtig sind und keine Eile haben. 

Unser Ziel für die Nacht ist die Imp Shelter, etwas abseits vom Trail gelegen, macht also wieder einen Extra-Kilometer. Sehr zu unserer Freude treffen wir Ryan wieder, der uns beim ersten gebührenpflichtigen AMC-Campsite den AT-Hiker-Pass gegeben hat. Nun zahlen wir nur den halben Preis, wir sind mit 10,- Dollar dabei. Und wir sind die einzigen Gäste auf dem Platz, so dass wir nicht das Zelt aufstellen, sondern uns in der Shelter richtig breit machen können. 

Viele Meilen haben wir heute nicht geschafft, es war eigentlich mehr Klettern als Laufen. Super anstrengend, aber insgesamt ein toller Tag zum Wandern. 

Regen in der Nacht und früh am Morgen. Da ist die Motivation nicht besonders groß, wir bleiben etwas länger liegen. Vor uns präsentiert sich ein bizarrer Geisterwald. Draußen herrscht dichter Nebel. Wir liegen gemütlich im Schlafsack, trinken Kaffee und beobachten das Tierkino vor der Shelter. Ein Katzen-ähnliches Felltier springt  vorbei, kurz darauf ein Hase, dann setzen sich zwei Vögel auf den Platz davor und warten offensichtlich, dass etwas von unseren Keksen übrig bleibt. Erst um 9.30 Uhr ziehen wir los, erstmal noch verpackt in mehrere Schichten Kleidung und Regensachen drüber. Natürlich geht es gleich wieder hinauf. Schon nach einer halben Stunde fangen wir an zu schwitzen. Anhalten, einige Lagen ausziehen ….. Es wird sofort empfindlich kühl beim Umziehen. Das ist Klimatherapie in den White Mountains. Sobald wir uns wieder bewegen, wird es warm. Der Aufstieg auf den Mount Moriah ist nicht schwierig. Oben auf dem Gipfel null Sicht und kalt. Schnell wieder weg. Wir laufen den ganzen Vormittag in dichtem Nebel herum. Man hört Thomas leise fluchen. Er ärgert sich darüber, dass wir floddernass werden, obwohl es nicht regnet. Die Bäume tropfen uns von oben voll, die nassen Büsche streifen an den Hosenbeinen entlang, die Füße laufen durch Schnee und Pfützen. Ja, schon wieder Schnee, oder immer noch ? Heute verläuft der Trail etwas gemäßigter als gestern. Von Allem etwas dabei, aber nicht so extrem kräftezehrend. Außer ein sehr steiles Stück, der Abstieg vom Mount Moriah zum Rattle River. Da müssen wir uns mal eben über 1000 Höhenmeter in die Tiefe stürzen, das geht nicht auf die sanfte Art. Es wäre Zeit für eine Frühstückspause. Nicht schön im nassen Wald, wir frieren schon nach ein paar Minuten Sitzen. Außerdem haben Milliarden von Moskitos beschlossen, über uns herzufallen. Erste Attacke beim Wasserholen, fluchtartig packen wir unseren Kram zusammen und laufen einen Kilometer weiter. Aber auch dort finden uns die Quälgeister sofort und stechen wie verrückt auf uns ein. Auch nach der Pause gibt es keine Gnade, die Mossis stechen durch Handschuhe und Pulli hindurch, setzen sich während des Laufens ganz frech ins Gesicht. Ich halte noch einmal an, um mir meine Regenjacke anzuziehen und mein Netz für den Kopf herauszuholen. Keine Stiche mehr, aber dafür schwitze ich nun noch mehr und schmore im eigenen Saft. Vor mir hüpft eine fette Kröte auf dem morastigen Weg und purzelt dann den schrägen Abhang hinunter. Wir sehen eine Gardener Snake im Laub, länger und größer als die beiden vorigen Schlangen. Auch diese zieht es vor, schnell zu verschwinden.

Nachdem der Abstieg endlich geschafft ist wird es merklich wärmer. Kein Wunder, wir sind von 4000′ Fuß bis auf 780′ Fuß hinabgestiegen. An den Rattle River hatten wir keine besonders guten Erinnerungen. Der Fluss mit seinen vielen Verästelungen ist allgegenwärtig, das Tal ist ein einziges Feuchtgebiet. Nur Matsch und Modder, durch die Schneeschmelze und den Regen in der Nacht ist es nicht besser geworden. Nasse Füße, aber das sind wir ja gewöhnt. Es sieht nach Elch-Toilette aus. Komischerweise sieht man öfter diese Ansammlungen von Elch-Kötteln, als ob die Tiere ihr Geschäft wirklich ganz bewusst immer am selben Ort verrichten. Kommen an der Rattle River Shelter vorbei, die wir im Jahr 2012 völlig fertig erst bei Dunkelheit erreicht haben. Gut, dass wir früh dran sind und heute nicht hier bleiben wollen. In der Shelter hat sich eine Gruppe ausgebreitet und regelrecht eingenistet. 6 Rucksäcke stehen davor, 6 Proviantbeutel hängen im Baum, überall sind Klamotten zum Trocknen ausgebreitet. Vor die offene Vorderwand der Shelter haben sie ein Zelt als Vorhang gehängt, so dass man noch nicht einmal hineinsehen kann. Wir grüßen nur kurz und marschieren weiter. Es folgen die einfachsten Kilometer seit unserem Start in Hanover. Das macht Spaß, wir freuen uns, dass wir endlich schnell vorwärts kommen. Ruckzuck stehen wir an der Straße nach Gorham. Hier waren wir vorgestern bereits, das ist die Stelle, an der uns die nette Fahrerin absetzen wollte. Nun sind wir wieder hier, sind ganz ehrlich jeden Meter gelaufen. So nahe an der Stadt kommen natürlich schon wieder Gedanken an Essen und Trinken auf. Mal eben zum Walmart trampen ? Oder nur ins nächste Restaurant, um essen zu gehen ? Oder vielleicht zur Bücherei, um nach dem verlorenen Taschenmesser zu fragen ? Wir entscheiden uns dagegen, machen nur kurz Pause und verschwinden wieder auf dem Trail. Wir beobachten das erste Streifenhörnchen der Saison auf einem Felsen. Die putzigen Nager sind wohl soeben aus ihrem Winterschlaf erwacht. Wir sind total begeistert, denn wir dürfen auf einem richtig schönen Waldweg laufen. Nicht nur ein paar Minuten lang, es bleibt die ganze Zeit so angenehm. Zwar gibt es noch einige große Stufen zu überwinden, aber die schlimmste Kletterei haben wir wohl hinter uns. Wir entdecken deutliche Kratzspuren von Bären an einem Baum. Vor uns liegt ein neuer Berg, ein gleichmäßiger Anstieg auf laubbedecktem Pfad führt immer höher. Toll ! Das ist endlich wieder der Appalachian Trail, wie wir ihn kennen und lieben. Getrübt wird die Freude nur dadurch, dass wir 4 Flaschen Wasser von unten hochschleppen müssen. Im weiteren Verlauf bis zum Gipfel gibt es kein Wasser mehr, bis zur nächsten Quelle ist es uns zu weit. Wir möchten gerne unabhängig sein und an einem schönen Platz das Zelt aufstellen, wenn uns nach Feierabend ist. Die Moskitos sind nach wie vor um uns herum, unheimlich lästig, sie treiben mich fast in den Wahnsinn. Da ich auf zu viele Stiche ziemlich übel reagiere, nehme ich schon auf halbem Wege im Aufstieg eine Antihistamin-Tablette ein, zum Abendessen später dann noch eine. Der Gipfel des Mount Hayes besteht aus glatten Felsplatten zwischen niedrigen Nadelbäumchen und Moospolstern. 19.00 Uhr Feierabend ! Schnell wird das Zelt aufgebaut und Essen gekocht, denn der Himmel sieht nach Regen aus. Geht auch fast sofort los, zunächst fallen nur ein paar Tropfen, dann regnet es richtig. Die Abend-Mahlzeit nehmen wir im Zelt ein. Thomas meint, einen Bären gerochen zu haben. 

Gestern sind wir noch gerade rechtzeitig ins Zelt gekommen. Es folgte der typische Dauerregen, 13 Stunden hat es ohne Unterbrechung auf’s Zelt gepladdert. Zunächst fanden wir es noch urgemütlich, dem Prasseln zuzuhören und sind zufrieden eingeschlafen. In der Mitte der Nacht jedoch wachten wir Beide auf, weil unsere Schlafsäcke nass geworden sind. Da hat es doch an einer Ecke herein geregnet, weil es schlecht verspannt war. Heringe halten nicht auf nacktem Felsen, deswegen musste Thomas alle Leinen mit großen Steinen stramm ziehen. Der Saum oben am Zeltdach ist auch nicht mehr ganz dicht, der muss dringend neu versiegelt werden. Das Wasser hat sich in den Ecken gesammelt, unsere Isomatten sind von unten nass, mein Rucksack liegt in einer Pfütze. In meinen Proviantbeutel, der draußen im Baum hing, ist Wasser eingedrungen. So viel Regen hält das beste Material nicht aus. Ich habe morgens drei neue Quaddeln am Hals, wahrscheinlich von einer Mücke, die sich ins Zelt eingeschlichen hat. Es dauert ziemich lange, bis wir unser Lager abgebaut und alles so verstaut haben, dass das nasse Zeug die trockenen Sachen nicht kontaminiert.

Unser heutiger Wandertag beginnt genauso wie der gestrige. Wir laufen durch feuchten Nebelwald, die Bäume schütteln ihre Zweige über uns aus. Aber es ist warm. Die Natur freut sich, überall um uns herum sprießt und grünt es. Hübsche Sternchen-Blumen, winzig klein, die gab es gestern noch nicht. Ein Mini-Frosch springt vor unseren Füßen davon. Der Weg gefällt uns, er führt eine Weile schön gemäßigt auf und ab. Es gibt zwar noch Kletter-Passagen, aber es scheint eine Schwierigkeitsstufe niedriger als in den White Mountains zu sein. Einmal müssen wir mühsam durch ein Bachbett aus Steinen nach oben steigen. Eine sehr schräge Felswand nehme ich auf allen Vieren. Fühle mich sicherer auf den Knien, weil Steine, Erde und Moos nass und rutschig sind. Die Knie von Thomas mucken heute beide etwas rum.

Zur Mittagszeit klart der Himmel auf, die Sonne setzt sich durch. Was für ein Glück ! Genau das haben wir gebraucht. Es folgt eine 2-stündige Pause auf den sonnigen Klippen. Thomas bindet eine Leine zwischen die Bäume, auf der wir unsere Schlafsäcke, Isomatten, Regensachen und Socken aufhängen. Auch das floddernasse Zelt stellen wir auf, damit es trocknet. Die Rucksäcke werden komplett entleert,  den gesamten Inhalt breiten wir auf den hellen Felsen aus. Die Sonnenstrahlen trocknen unsere gesamte Ausrüstung, während wir eine warme Mahlzeit zu uns nehmen und uns entspannen. Alles ist perfekt. 

Wir sehen Bärenkot auf einem Stein, etwas später dann Elchspuren im Matsch. Die Tierwelt ist vielfältig, aber die meisten Vierbeiner bekommen wir nicht zu Gesicht. Ein Truthahn schreit ganz in der Nähe. Thomas denkt dabei nur ans Essen. Die Mossis sind nach wie vor außer Rand und Band. Diese blutrünstigen Plagegeister stechen durch zwei Schichten Kleidung hindurch. Die Wirkung von Mückenspray hält ungefähr 10 Minuten an, dann fallen die Biester wieder über uns her. Ich laufe nur noch mit Netz über dem Kopf.

Wir kommen recht gut voran, mal auf laubbedecktem Waldweg oder über grobe Felsen, auf denen man festen Griff hat. Mehrere Seen liegen malerisch in der Landschaft. An einen idyllischen Zeltplatz am Page Pond können wir uns besonders gut erinnern. Dort haben wir 2012 am gegenüber liegenden Ufer einen Elch im Wasser stehen gesehen. Es ist zu früh, um Feierabend zu machen. Wir möchten noch den nächsten hohen Berg in Angriff nehmen. Es folgt ein schweißtreibender Aufstieg. Ich glaube …. denke …. wünsche …. dass dieses der Gipfel vom Mount Success ist. Aber leider war es nur ein vorgelagerter Hügel ohne Namen, eine kleine Übung zum Warmwerden sozusagen. Also müssen wir nochmal alle Kräfte mobilisieren. Wir tragen von der letzten sicheren Quelle wieder volles Programm Wasser den Berg hinauf. Dabei wäre das diesmal gar nicht nötig gewesen, denn die ganze Zeit rinnt uns Schmelzwasser entgegen. Schaffen es in knapp 2 Stunden bis über die Baumgrenze und gucken uns die Augen aus nach einem geeigneten Lagerplatz. Entweder zu eng, zu schief oder zu sumpfig ist das Gelände oben auf dem Top. Schließlich bauen wir das Zelt auf der einzig gerade Stelle mitten auf dem Gipfel auf. Müssen vorher ordentlich Steine heranschleppen, die schwer genug sind, die Verspannung auch bei viel Wind sicher zu halten. Es könnte spannend werden …. Dummerweise legt der Wind zu, so dass wir uns mit dem Abendessen auf den Felsen beeilen. Es wird sehr frisch, die leeren Schüsseln und Wasserflaschen fliegen durch die Gegend. Heute haben wir überhaupt keinen Schnee gesehen. Daumen drücken, dass es so bleibt ! 

Der Wind hat über Nacht abgenommen, morgens ist es völlig windstill und mild. Was haben wir für ein Glück gehabt auf unserem ausgesetzten Platz ! Das hätte auch richtig ätzend werden können. Die Sonne scheint schon sehr früh ins Zelt, weil wir auf dem höchsten Punkt oberhalb der Baumgrenze stehen. Schon um 6.00 Uhr früh sitzen wir mit unserem Kaffee auf den Klippen und genießen die Aussicht. Was wir gestern am Abend hinaufgekämpft sind, das müssen wir nun gleich wieder hinunter. Beim Abstieg stolpern wir fast über eine Gardener Snake. Ziemlich dick, die scheint gerade gefressen zu haben. Die Landschaft präsentiert sich heute total wild. Schroffe Felswände, steile Hänge, die mit Moos bewachsen sind. Schmelzwasser überall, Schnee liegt nur sehr wenig abseits zwischen den Bäumen. Eine fast senkrechte Schlucht müssen wir in bester Kletter-Manier hinunter. Die Stöcker stören nur, sie fliegen voraus, weil wir beide Hände zum Festhalten brauche. Dabei schmiere ich einmal kurz ab und rutsche einen Meter tiefer. Auch dabei schützt lange Kleidung, zudem polstert der Rucksack den Rücken gut ab. Also nichts weiter passiert. In den Ecken und Nischen der Schlucht liegen noch dicke Eisblöcke. Hier scheint die Sonne wohl niemals hin. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir die Grenze zwischen den Bundesstaaten New Hampshire und Maine. 260 Kilometer von Süden nach Norden durch New Hampshire sind geschafft. Im Vergleich dazu ist der AT in Maine mit 455 Kilometern viel länger, aber das Gelände ist insgesamt flacher.

Ein Adler zieht majestätisch über uns seine Kreise. Ohne einen einzigen Flügelschlag lässt sich dieser imposante Vogel allein von der Thermik immer höher in die Luft tragen. 

Am Nachmittag darf wieder geklettert werden, was das Zeug hält. Wir laufen den Mahoosuc Trail, das macht wahrscheinlich kein Mensch freiwillig. Nur die AT-Hiker müssen hier durch. Einfach gibt es nicht mehr, an schnell Vorankommen ist auch nicht zu denken. Es gibt so viele Hindernisse auf dem Weg, die müssen wir Stück für Stück abarbeiten. Eine senkrechte Felswand tut sich vor uns auf. Auf der rechten Seite sind Eisensprossen eingelassen. Eine Ebene höher gibt es Eisensprossen auf der linken Seite. Dazwischen wurde ein Eisengriff eingelassen, um den Übergang zu erleichtern. Sehr gut !

Nächste Ebene, noch etwas höher, wartet eine Holztreppe. Auch gut. Dann geht es auf der anderen Seite fast genauso steil wieder hinunter. Diesmal ohne Hilfsmittel, da muss man sich tüchtig in die Äste oder Wurzeln der Bäume krallen. Unten angekommen laufen wir erneut durch Sumpf. Dutzende von Bretterstegen aneinandergereiht sollen das Laufen trockener machen, aber zur Zeit versinken diese nur im Morast. Es folgt ein weiterer Aufstieg auf den Mount Carlo, der exakt dieselbe Höhe besitzt wie unser gestriger Abendberg. Vom Gipfel ins Tal bedeutet nochmal viel Schweiß und Turnerei. Wir müssen über einige kleine Schneefelder stapfen, was enorm aufhält. Als nächster Berg liegt der Goose Eye Mountain mit seinen drei Gipfeln vor uns.

Wir passen Beide nicht so richtig auf und sind voll im „AT geht bergauf“-Modus. Daher verpassen wir einen Abbieger und schauen uns aus Versehen noch einen weiteren Gipfel an. Oben merken wir, dass es nicht weitergeht. Sackgasse – wir müssen wieder runter und zurück. West-, Ost- und Nord-Gipfel nacheinander, bloß nichts auslassen. Dazwischen wandern wir immer wieder auf offenen Flächen mit sagenhaftem Weitblick. Unbeschreiblich schön, genau dafür sind wir hier. Unterhalb der Baumlinie stapfen wir leider weiterhin durch Schnee, mal mehr, mal weniger fest. Einige Stellen sind vereist und so glatt, dass man keinen Fuß drauf setzen darf. Es bleibt mühsam. Kurze Pause an der Full Goose Shelter. Wir müssen uns beraten, denn mein ganz persönlicher Feind liegt vor uns : die Mahoosuc Notch in 2,5 Kilometer Entfernung. Es ist 16.00 Uhr, wir wollen es heute noch wagen ( und ich möchte es hinter mich bringen ).

Schon der Weg dorthin ist anstrengender als wir in Erinnerung hatten. Ein sehr tiefer Abstieg folgt. Steile Wände im Freikletter-Stil, schräge Felsen mit noch mehr Holzsprossen. Dauert lange, bis wir dort sind. Und dann stockt uns der Atem, weil wir Schnee sehen – sehr viel Schnee. Wir haben noch ein paar Vorbereitungen zu treffen, bevor wir in die Schlucht einsteigen. Unsere Wasserflaschen sind natürlich leer, um Gewicht zu sparen. Normalerweise tragen wir sie zu beiden Seiten außen am Rucksack, jetzt werden die Flaschen nach innen verfrachtet, damit wir schmaler werden. Alle Dinge, die sich lösen oder herausfallen können, werden weggepackt. Die Rucksäcke müssen ganz eng am Körper anliegen, also fester geschnallt werden. Dann nur noch Pullover in die Hose, Hose in die Socken und auf in den Kampf. Die Mahoosuc Notch ist eine enge Schlucht, in der riesige Felsbrocken nebeneinander und übereinander gestapelt liegen. Das sieht aus, wie von einem Riesen völlig wahllos hineingeworfen.

Laut unserem Handbuch sind es die schwierigsten 2 Kilometer auf dem Appalachian Trail. Ich hasse sie ! Schmal, dunkel, erdrückend und deprimierend wirkt diese Landschaft. Kein Licht und kein Ausweg sichtbar, denn man kann immer nur bis auf die Barriere schauen, die direkt vor einem liegt. Da muss man von Felsen zu Felsen springen oder sich manchmal auch durch enge Tunnel am Boden quetschen. Dieses Jahr haben wir dieses zweifelhafte Vergnügen mit 2 Meter hohem Schnee und dicken Eisbrocken garniert. Interessant ist der Temperatur-Unterschied innerhalb der Schlucht zu dieser Jahreszeit. Wenn wir unseren Weg zwischen den Hindernissen am Boden suchen, dann fühlen wir uns zwischen Eis und Schnee wie im Kühlschrank. Versuchen wir durch Springen und Klettern auf den hohen Felsen Strecke zu machen, dann steigt die Temperatur um schätzungsweise 20° Grad, ein warmer Wind wie Föhn weht uns um die Ohren. Die Mahoosuc Notch bringt mich an meine Grenzen. Nach der Hälfte der Strecke reicht die Kraft in den Händen und Armen nicht mehr. Thomas hilft mir an einigen Stellen mit Räuberleiter oder einem gekonnten Klammergriff zum Ziehen. So funktioniert es irgendwie. Wir kommen ohne große Aufregung und ohne einen Kratzer hindurch. Für diese 2 Kilometer haben wir dieses Jahr genau 2 Stunden gebraucht. Eine sehr gute Zeit, wir sind zufrieden und froh, dass es hinter uns liegt. Beim letzten Mal haben wir 3,5 Stunden gebraucht. Es gab damals unheimlich viel Gezeter, Fluchen und Heulerei auf meiner Seite – kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Dafür war das heute eine ziemlich gute Leistung. Super Team-Arbeit ! Danke an meinen immer geduldigen Mann, der das aushalten muss und mir Hilfestellung gibt, wenn es kneift.

Die White Mountains sind zu Ende. Im Jahr 2014 war ich gar nicht begeistert darüber, dass ich meinen Solo-Trail so kurz vor dem Ende abbrechen musste, wo ich mich doch so weit ganz gut durchgeschlagen hatte. Ein paar Jahre später bin ich sehr froh darüber, dass Thomas mich begleitet und ich diesen Schwierigkeitsgrad nicht alleine klettern musste. Auch meinen Angstgegner, die Mahoosooc Notch, haben wir heute zusammen erfolgreich gemeistert. Ich bin mir ganz sicher, dass ich dieses Stück nicht noch einmal machen möchte. Direkt hinter der gefürchteten Schlucht gibt es einen Campingplatz, auf dem wir unser Zelt im Dunkeln – aber in Feierstimmung – aufbauen. Es war ein langer Tag, 12 Stunden unterwegs, davon nur knapp 2 Stunden Pause. Vier Knie schmerzen, Thomas trägt inzwischen beide Knie-Bandagen. 

Die Ruhe auf einem einsamen Platz im Wald ist Gold wert. Wir haben ungestört geschlafen und uns über Nacht gut erholt. Nötig war’s, denn es liegt noch ein weiterer anstrengender Tag vor uns. Ich erinnere mich gut an den steilen Aufstieg im Mahoosuc Arm. Das ist eine schmale Verlängerung der gleichnamigen Schlucht und bedeutet weiterhin anstrengendes Klettern über Felsbrocken, die nun lediglich eine Nummer kleiner sind. Auch diese Etappe gehört nicht zu meinen Favoriten. Wir sind ausgeruht und deswegen relativ schnell. Es geht 2 Stunden lang immer nur hoch und höher. Auch hier oben haben wir noch weite Schneefelder zu übersteigen. Einem Anstieg folgt immer sehr bald der Abstieg, so ist das Gesetz auf dem AT. Es wird feucht und matschig, sobald wir den Wald erreichen. Zwischendurch gibt es Lichtungen, die mit Moos bewachsen sind und nach der Schneeschmelze aussehen wie Sumpfgebiet. Ich gehe schnellen Schrittes voraus und habe in einer Senke einen morastigen Tümpel vor mir. Der braune Teich hat einen Durchmesser von ca. 2 Metern. Mitten hindurch liegen schmale Bretter, die allerdings mehrere Zentimeter unter Wasser liegen und sehr morsch aussehen. Bin mir nicht sicher, ob diese Stege überhaupt fest sind oder nur lose obenauf schwimmen. Sicherheitshalber möchte ich mich beim Drüberlaufen mit einem Stock abstürzen. Grober Fehler ! Mein Stock versinkt dabei wie in Zeitlupe im Matsch, weg bis unter die Haltegriffe, etwa einen Meter tief eingesackt. Dadurch verliere ich das Gleichgewicht und kann die Balance nicht mehr halten. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht nach rechts, ohne lange darüber nachzudenken. Dadurch gerate ich aus der unmittelbaren Gefahrenzone und lande knapp außerhalb des Schlammloches im patschnassen Moos. Noch im Flug löse ich die Gurte meines Rucksackes, damit ich den fallenlassen kann und nicht noch mehr nach unten gezogen werde. Ein Fuß landet im Schlamm, ansonsten liege ich volle Breitseite daneben. Natürlich bin ich trotzdem von oben bis unten nass, weil die Vegetation hier das Wasser aufsaugt wie ein Schwamm. Aber genauso gut hätte ich mitsamt meinem Rucksack im Matsch versinken können. Wie gut, dass ein gesunder Mensch Reflexe hat ! Thomas hatte das Vergnügen, hinter mir zu laufen. Gutes Kino sozusagen …. Er sagt, es hat ausgesehen wie ein gekonnter Hechtsprung zur Seite. Wir lachen uns halbtot über meinen Stunt und amüsieren uns auch im weiteren Verlauf des Tages noch köstlich, wenn wir an diese Szene denken. Schade, es gibt leider keine Video. 

Vor uns liegt ein großer See, der Speck Pond. Dunkelgrüne Nadelbäume reichen ringsum bis ans Ufer, dazwischen glitzert weißer Schnee. Der See führt Hochwasser und hat den Trail überspült. Ein kleiner Damm aus Ästen trägt uns, wenn wir vorsichtig balancieren. Ob diese Brücke von Bibern oder von Menschenhand gebaut wurde, das bleibt ungewiss. Es gibt ein kräftigendes Haferflocken-Frühstück an der Speck Pond Shelter. Schon seit gestern habe ich eine stark juckende Stelle am linken Unterschenkel, die ich aber nicht weiter beachtet habe, weil es einfach überall juckt. Nun untersuche ich den verdächtigen Stich bei Tageslicht und mit Brille. Hart, geschwollen, in der Mitte ein kleines schwarzes Etwas. Da hat sich wohl gestern schon eine Zecke in die Haut gegraben, die ich mit der Pinzette vorsichtig entfernen kann. Weiter geht es über den Speck Mountain. Der Aufstieg ist nicht ganz einfach, aber okay. Der Gipfel dieses Berges kann von einem nahe gelegenen Wander-Parkplatz aus gut erreicht werden. Es ist Wochenende und bestes Sommerwetter. Viele Wanderer sind unterwegs, um einen Tagesausflug zu machen. Wir zählen 52 Menschen, die uns von der Straße bis zum Gipfel des Speck Mountain entgegenkommen. Reicht ! Da wird doch schon wieder unser Fluchtinstinkt geweckt. Allerdings bedeuten diese vielen Menschen, die sich nach oben kämpfen auch, dass der Weg deutlich leichter werden muss. Genauso ist es, wir fliegen förmlich die nächsten 6 Kilometer den Berg hinunter. Dutzende von Autos stehen auf dem Parkplatz. Auf der anderen Seite der Straße müssen wir wieder hinauf. Man kommt zwar ins Schwitzen, aber der Weg ist sehr gut gepflegt, weil viele Wanderer ihn für Tagesausflüge aussuchen. Eine nette kleine Route führt zu einem Wasserfall, bis hierhin schaffen es die meisten Sonntags-Spaziergänger. Ab jetzt ist nicht mehr der Appalachian Mountain Club ( AMC ) zuständig, sondern die Unterhaltung unterliegt der Verantwortung des M.A.T.C. ( Maine Appalachian Trail Club ). Auch heißen die Shelter in Maine nicht mehr Shelter, sondern „Lean-to“. Das Prinzip ist dasselbe : Unterstand mit drei Holzwänden, oben ein Dach, nach vorne hin offen. Unser nächster Hügel ist der Table Rock, ein beliebtes Ausflugsziel für Kurz-Wanderungen. Ganz nett. Darauf folgt ein stärkerer Anstieg bis auf den West-Gipfel des Baldpate Mountain. Sehr schön. Helle Granitfelsen, so weit das Auge reicht. Die weißen Felsen glitzern wunderschön in der Sonne, abgeplatzte Teilchen sehen aus wie zerbrochene Spiegelscheiben. Der AT wird durch große Steinmännchen markiert, die in kurzen Abständen hintereinander stehen. Weite Sicht nach vorne und leicht begehbare Felsen machen diesen Berg zu etwas ganz Besonderem. Ganz oben finden wir eine volle Wasserflasche, noch fest verschlossen, an einer Steinmännchen-Markierung. Die hat wohl Jemand vergessen oder verloren. Uns kommt sie gerade recht, denn wir haben diesmal kein Wasser den Berg hinaufgeschleppt. Etwas später sehen wir Spuren von Elchen zwischen den Steinmännchen. Lustige Vorstellung, dass diese mächtigen Tiere den AT-Parcour in dieser Höhe gelaufen sind. Und es kommt noch besser. Eine der Lieblingsstrecken von Thomas ist der Aufstieg zum Ost-Gipfel des Baldpate Mountains. Dabei handelt es sich um flache Gesteinsplatten, die sich immer höher schichten und nach oben hin schmaler auslaufen. Das sieht aus wie eine riesige Pyramide aus hellem, fast weißem Granit. Man kann prima darauf laufen, ohne zu rutschen. Dazu haben wir das Glück, diese bizarre Landschaft bei bestem Wetter zu erleben.

So kommen wir auf der anderen Seite auch sehr schnell ein gutes Stück wieder tiefer. Irgendwann ist diese tolle Wanderung auf den Fels-Terassen leider zu Ende. Wir verschwinden wieder im Wald. Ab da wird es schwierig, modderig, das Tempo immer langsamer. An einem besonders steilen Felsen ist eine Eisenleiter an der Wand befestigt. Dann folgt eine hölzerne Hühnerleiter mit 32 Stufen. Die sieht nicht besonders vertrauenerweckend aus, obwohl sie garantiert sicher ist. Die Schwierigkeit dabei ist eigentlich, irgendwie mittig auf die oberste Sprosse zu treten. Man muss sich umdrehen wie beim Niedergang auf dem Boot, langsam rückwärts näher herantasten, dabei beide Stöcker in einer Hand und aus dem Weg halten. Keine Panik, wenn das Ding ein bisschen wackelt ….. Etwas später gibt es ein Seil zum Festhalten und Hangeln. Das ist an dieser Stelle eine große Hilfe. Einen Kilometer weiter haben wir erneut in den Felsen eingelassene Stufen aus Holz vor uns. Dieselbe Methode, vorsichtig rückwärts hinunter klettern, dabei baumeln die Stöcker an einer Hand außen. Man sollte auf jeden Fall schwindelfrei sein und besser nicht hinunter gucken. Diese Fummelei zum Ende des Tages ist echt nervig und dauert ewig. Die Landschaft weiter unten ist völlig wüst. Hier wurde nach dem Winter noch gar nichts am Trail gemacht. Immer wieder blockieren dicke Baumstämme den Weg. Drüber, drunter oder drumherum ? Alles kostet viel Zeit. So kommt es, dass wir erst bei Einbruch der Dunkelheit völlig geschafft bei der Frye Notch Lean-to ankommen. Eigentlich hatten wir darauf gehofft, dass wir alleine dort sind und diesen Abend gemütlich ausklingen lassen können. Aber leider müssen wir uns von dieser Wunsch-Vorstellung verabschieden. Direkt vor der Shelter steht ein Zelt, darin liegt ein Vater mit seinen zwei schlafenden Kindern. Auf der rechten Seite des Unterstandes schnarcht bereits ein dick vermummter Mensch. Diese paar Leute haben sich total ausgebreitet, in der Shelter und davor liegen überall Sachen verteilt, alle Haken sind belegt. Wir räumen den Kram ein bisschen zusammen, damit wir Platz für unsere Isomatten bekommen. Kochen und Essen findet etwas abseits statt, damit wir Niemanden stören. Danach verziehen uns auch bald in die Schlafsäcke. 22.00 Uhr ist spät genug. Es war wieder ein langer Tag, 12 Stunden unterwegs mit 2,5 Stunden Pause. Da kommt das Schlafen schon fast ein bisschen zu kurz. Eine Woche im Wald mit schmaler Kost zehrt an den Kräften. Es wird Zeit für einen Ruhetag.

Beide werden wir schon sehr früh geweckt, weil ein Specht gegen die Holzbalken unserer Shelter hämmert. Um 6.00 Uhr klingelt der Wecker des unbekannten Wanderers auf der anderen Seite. Gleich drei Mal geht der Alarm los, aber die Mumie im blauen Schlafsack rührt sich nicht. Wir sind auf jeden Fall wach. Die Kinder schlafen noch, der Vater ist bereits auf und bereitet das Frühstück. Schnell einen Kaffee und einen Müsli-Riegel zum Frühstück, dann packen wir unser Zeug zusammen. Inzwischen sind auch die Kinder erwacht, ein Mädel von ungefähr 8 Jahren, der Junge etwa 6. Beide sind sehr angenehm, nicht laut oder nervig. Als wir um 7.00 Uhr aufbrechen, da setzt sich gerade die Mumie auf und dreht sich noch im Schlafsack eine Zigarette. Es sind nur 10 Kilometer bis zur Straße, von wo aus wir nach Andover trampen möchten. Hört sich schnell und einfach an. Wir laufen auf einem braunen Blätterteppich. Das ist das Herbstlaub vom vergangenen Jahr, gerade erst vom Schnee freigegeben. Kommen schnell voran und sind guter Dinge. Überwiegend Abstieg, der an manchen Stellen doch erstaunlich steil und mühsam ist. Aber es macht immer Spaß, in Richtung Zivilisation zu laufen, wo Essen, Trinken, eine Dusche und ein richtiges Bett warten. Begleitet wird unser schneller Marsch von munterem Vogelgezwitscher und Sonnenschein. Vor uns im Matsch sind sehr deutliche Elch-Abdrücke zu erkennen. Unser Pfad führt immer tiefer ins Tal, vorbei an eiskalten Wasserfällen, den Dunn Falls. Wir haben nur einen flüchtigen Blick dafür, denn die Moskitos fressen uns beinahe auf. Thomas bleibt kurz stehen und sagt : „Ich gehe nicht weiter, wenn ich nicht in Andover ein Moskitonetz bekomme.“ Um 10.00 Uhr stehen wir bereits an der Straße. Es sind 13 Kilometer Richtung Osten bis in den kleinen Ort Andover. Tote Hose – hier ist so gar nichts los. Was für eine Einöde, null Verkehr. Stehenbleiben geht nicht, die blutrünstigen Plagegeister machen uns fertig. Also laufen wir los. Per Anhalter klappt diesmal überhaupt nicht. Es kommt tatsächlich alle halbe Stunde ein Auto vorbei, aber keines hält an. Wir sind ziemlich frustriert, weil wir uns doch auf ein leckeres Frühstück gefreut hatten. In der prallen Sonne latschen wir immer weiter. Schon wieder sehen wir Spuren von Elchen, die der Straße auf dem sandigen Randstreifen folgen. Zunächst sind es große Huf-Abdrücke, später dann sind diese verschwunden und machen kleinen Hufen Platz. Erst der 9. Wagen hält, da haben wir bereits mehr als zwei Drittel der Strecke geschafft. Der Fahrer hat eine offene Bierdose in der Hand. Spießer halten einfach nie. Wir sollen hinten auf die offene Ladefläche klettern. Machen wir gerne. Dort lassen wir uns den Fahrtwind um die Nase wehen, und die letzten Kilometer fliegen nur so vorbei. Direkt vor dem General Store werden wir abgesetzt, denn Essen und Trinken sind die dringendsten Bedürfnisse nach einer Woche Kalorien-Defizit. Danach suchen wir „Pine Ellis Lodging“, die einzige Übernachtungsmöglichkeit im Dorf. Bittere Enttäuschung – die privaten Zimmer sind alle belegt. Wir bekommen nur 2 einzelne Betten im Vierer-Raum, was zudem noch ein Durchgangszimmer ist. Bisschen schmuddelig ist es auch überall. Die Gemeinschafts-Küche mag man gar nicht benutzen, da gehen wir lieber essen. Wir teilen das einzige Bad mit den anderen Gästen, mit Miss Elli und mit ihrem Arbeiter. Nicht gerade das, was wir uns nach den Strapazen der letzten zwei Wochen zum Ausruhen vorgestellt hatten. Aber die alte Dame ist bereits um die 80 Jahre, schwerhörig und so herzig, dass man Manches nachsehen kann. Morgen können wir eventuell umziehen in ein eigenes Zimmer mit Tür zum Abschließen. Andover gefällt uns auf Anhieb. Ein niedliches 800-Seelen-Dorf mit hübschen Häusern, gepflegten Gärten und Park. Der Flieder blüht, sowohl in lila als auch in weiß. Es duftet überall ganz betörend. Die Menschen arbeiten draußen in den Gärten, sie sind gutgelaunt und geschwätzig. Der Winter in Maine war kalt und lang, er soll 8 Monate gedauert haben. Nun ist es eindeutig Frühling, bzw. Früh-Sommer. Gestern haben wir die ersten Monarchfalter der Saison gesehen, heute fliegen Dutzende von Schmetterlingen umher. 

Unsere Handschuhe müssen genäht werden, die sind durch die Kletterei und das Hangeln in den Bäumen arg strapaziert worden. Wäsche ist wieder sauber, sowohl die Waschmaschine als auch der Trockner funktionierten. Thomas bekommt sein Moskitonetz für den Kopf, da Miss Elli sehr geschäftstüchtig ist und solche existentiellen Dinge für Wanderer zum Verkauf anbietet. Einkauf hier im Dorf ist teuer, es sind auch nicht alle Artikel verfügbar, aber wir werden nicht verhungern. Ich habe bisher in drei Wochen auf dem Trail 2,5 Kilo abgenommen, was kein Schaden ist nach den vielen Monaten mit guter Küche und Bier auf Norderney und El Hierro.

3 Kommentare zu “AT 3. Woche Gorham – Andover / Maine

    1. 871385 Autor des Beitrags

      Liebe Ingrid,
      off-day heißt das Zauberwort. Einmal in der Woche ein nettes Zimmer, der Fernseher läuft, Bierchen steht daneben. Manchmal habe ich wirklich keine Lust zum Schreiben, aber wir wissen, dass wir einigen Menschen die Welt damit näher bringen.
      Noch zwei Wochen bis zum Mount Katahdin.
      Liebe Grüße aus einem kleinen Dorf in Maine senden dir Thomas und Frauke.

      1. Steinfisch

        Ja, mit diesen interessanten Texten/Fotos bereitest Du vielen Menschen eine große Freude! 😀
        Vor Jahren bin ich noch gerne gewandert, auch wenn wir ehemaligen DDR-Bürger diese Möglichkeit gehabt hätten, an so eine Tour hätte ich mich nie gewagt. Aber so aus ganz weiter Ferne wandere ich sehr gerne mit Euch mit! 😀 😀 😀

        Danke, danke, danke!!!

        Liebe Grüße in die Ferne! Ingrid