Wir segeln und wandern durch die Welt

AT 5. Woche Stratton – Monson / Maine

Unser Lobster-Koch kommt pünktlich, um uns abzuholen. Eine kleine Rundfahrt gibt es gratis dazu. Vorbei am Flagstaff Lake und an seinem Haus, dann bringt er uns zu einer offenen Wiese, von wo man einen tollen Rundum-Blick hat. Tom erklärt uns die umliegenden Berge. Hinter uns sehen wir die Reihe der Gipfel, über die wir in den letzten Tagen geklettert sind : Saddleback, Horn, Saddleback Junior, Lone Mountain, Spaulding und Crocker Mountain. Sehr beeindruckend, dass wir die alle schon hinter uns gelassen haben. Viele, viele Höhenmeter. Vor uns liegt nun die Bigelow Range, eine ganze Kette von Gipfeln, die wir heute und morgen ablaufen werden. Tom ist bis vor 15 Jahren bei der Küstenwache gewesen und besitzt sogar ein eigenes Segelboot, welches er aber nun im Alter nicht mehr nutzt. Wir haben ihn für nächstes Jahr eingeladen, wenn wir mit der Walkabout nach Maine kommen. Gegen Mittag werden wir am Trailhead abgesetzt. Dort steht immer noch Fresh Ground mit seinem mobilen Imbiss. Neu im Programm sind Spaghetti Bolognese, Nudelsalat, Kotelett. Obst, Kekse, Süßigkeiten, Chips gibt es natürlich auch noch, aber bei uns passt rein gar nichts mehr hinein. Ein paar Hiker lassen es sich gut gehen. Einen Kaffee schlagen wir nicht ab, der geht immer. Eine Stunde mit netter Unterhaltung, dann können wir uns endlich loseisen und verschwinden im Wald.


Das Wetter ist genau richtig, keine Aussicht auf Regen, nicht zu heiß. Wie immer, wenn wir nach dem Proviant-Einkauf mit schwerem Rucksack starten, geht es gleich tüchtig bergauf. Aber das Gelände ist einfach, kaum mal eine Kletterstelle. Aufsteigen ist zwar anstrengend, aber wir mögen das, wenn man ordentlich ins Schwitzen kommt. Sobald wir den ersten Gipfel erreicht haben, sind Blutdruck und Puls innerhalb weniger Minuten wieder normal. Oben haben wir mehrere offene Stellen mit Weitblicken, die uns den weiteren Verlauf des Trails erahnen lassen. Eine Hügelkette liegt direkt vor uns, danach wird die Landschaft deutlich flacher. Sehr schön, da kommen Wandertage auf uns zu, wo wir nicht dauernd ausgebremst werden, sondern viele Kilometer am Tag schaffen können. Eine Schlange sonnt sich an einem der Aussichtspunkte auf einem Felsen, bis wir stören. Sie ist ca. 1 Meter lang, braun mit dunklen Streifen in Längsrichtung.


Heute geht es nur über das Süd-Horn und den West-Gipfel des Bigelow Mountain. Da sind wir schon wieder auf 4145′ Fuß hoch. Zwei Abstiege, ebenfalls sehr angenehm auf einer guten Spur. Das kommt uns gerade vor wie Urlaub nach den anstrengenden White Mountains und dem AT im südlichen Maine.
Noch vor dem nächsten Hügel gibt es einige Zelt-Plattformen, auf einer davon richten wir unser Lager ein. Kaum sind wir im Zelt verschwunden, da geht draußen ein lautes Trappeln und Knacken in den Bäumen los. Wahrscheinlich sind es Elche, die einen Abend-Spaziergang machen.
Habe mein Moskitonetz in den letzten 3 Stunden verloren, das hängt jetzt irgendwo hinter uns in den Bäumen. Zwei Mückenstiche hinter dem rechten Ohr, mehrere Stiche im Nacken, einige auf Wangen und Stirn. 🙁  Thomas gibt mir sein Netz – als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk, wie er sagt. Das wird mir hier und jetzt auf jeden Fall mehr nützen als auf dem Boot in La Restinga.

Wunderbare Ruhe auf unserem Campingplatz während der Nacht. Trotz der Höhe ist es windstill und warm. Es wird sehr früh hell, und wir haben große Lust zum Laufen. So kommt es, dass wir bereits um 8.00 Uhr auf dem ersten Gipfel stehen, dem Avery Peak mit 4090′ Fuß. Nur eine halbe Stunde später führt ein Seitenweg zu einem „Excellent View“ – der Wegweiser verspricht eine besonders schöne Aussicht. Ausnahmsweise machen wir diesen Umweg, allerdings lassen wir die Rucksäcke am Abzweiger stehen. Ja, es lohnt sich. Der Seitenweg bringt uns zu einem Fels-Balkon mit grandiosem Rundum-Blick. Schade, dass die Sonne noch so tief steht und von vorne scheint, sonst würde das ein tolles Panorama-Foto geben. Der Abstieg ist erstaunlich steil, da kommen wir nicht besonders schnell vorwärts. Ein weiterer Berg liegt vor uns, der Little Bigelow Mountain. Das Terrain ist nicht ganz so einfach wie gewünscht. Schon in der Frühstückspause wird klar, dass es mit einem 30-Kilometer-Tag nicht klappen wird.
Weiter unten windet sich der Weg zwischen riesigen Felsen hindurch. Gigantische Wände zu beiden Seiten, unter den Brocken gibt es Hohlräume, wo noch Schnee und Eis liegen. 
Metallic-grün leuchtende Käfer sind unterwegs. Knallig rote Käfer in Signalfarben haben wir schon öfter gesehen, aber dieses grün schillernde Exemplar ist noch bemerkenswerter.

Dagegen sind die Frösche am Wegesrand eher unauffällig und träge. Die sitzen still auf dem Trail und hüpfen mit 2-3 Sätzen ins Gebüsch, sobald wir näher kommen. Die Natur ist offensichtlich auch im nördlichen Maine jetzt vollends erwacht. Frosch-Nachwuchs krabbelt umher, ein halbes Dutzend Mini-Frösche, perfekte Tarnfarbe, genau an das Laub angepasst. Achtung – nicht drauftreten ! Ein braunes Eichhörnchen mit zwei buschigen Schwänzen fällt mir auf. Ist das eine neue Rasse, eine Mutation, vielleicht ein Geburtsfehler, oder sind das etwa zwei übereinander ? Bei näherem Hingucken wird klar, dass es wirklich zwei Eichhörnchen sind, die sich gerade paaren. Während ich mich annähere, macht das braune Fellbündel einen Satz zur Seite …. und weiter geht’s. Die Beiden sind emsig bei der Sache, die Geräusche sprechen eine deutliche Sprache, die Farne wackeln. Thomas lässt es sich nicht nehmen, mit dem Stock das Grünzeug etwas auseinander zu halten, um besser beobachten zu können. Das Liebespaar ist empört, löst sich kurz voneinander und flitzt eng hintereinander auf die andere Seite des Weges.


Wir sehen eine Schlange von derselben Art wie die gestrige. Diese ist etwas kürzer und schlanker. Bleibt auch nicht für ein Foto liegen, sondern verschwindet flink unter einem vermodernden Baumstamm. Vermutlich handelt es sich um eine Strumpfbandnatter. Hinter uns im Wald knackt es mehrmals laut. Das ist eindeutig ein großes Tier. Von denen lässt sich aber keines blicken, wir sehen weiterhin nur die Spuren.
Gestern sind wir mit dem Auto am Flagstaff Lake bei Stratton vorbeigefahren. Heute konnten wir dieses riesige Seengebiet auf der Bigelow Range von verschiedenen Aussichtspunkten bewundern. Am Nachmittag führt der AT mehrere Kilometer direkt am Ufer vorbei. Da bekommt man eine gute Vorstellung davon, wie riesig der Flagstaff Lake eigentlich ist. Die Gesamt-Wasseroberfläche beträgt 82 Km².
Es ist heiß. Die Luft ist drückend schwül. Ausdruck aus dem Müller-Vokabular : Das Wetter ist „düppig“. Wir schleppen uns vorwärts und haben ständig Durst. Die Wasserflaschen werden gefüllt, wann immer es möglich ist. Genauso schnell sind die wieder leer getrunken, wir haben bereits kurze Zeit später erneut Durst. Gegen 17.00 Uhr fängt es an zu regnen, zunächst nur leicht, aber nach einer halben Stunde kommt die Regenmontur zum Einsatz. Donnergrollen am Himmel, Gewitter waren angesagt. Wir haben noch 5 Kilometer bis zur West Carry Pond Lean-to. Dort gibt es das nächste Wasser, am Abend brauchen wir volles Programm zum Trinken, Kochen und für den Morgenkaffee. Eigentlich wollten wir das Zelt aufbauen, aber die Shelter ist groß und nur mit einer einzelnen Frau besetzt. In Anbetracht des Regens und der schlechten Wettervorhersage ziehen wir es vor, unter einem richtigen Dach zu schlafen. Wir haben unser Lager fertig eingerichtet, Thomas liegt bereits seit ein paar Minuten im Schlafsack. Als ich vom Zähneputzen komme, da hat er jedoch umdisponiert. Die Moskitos quälen ihn, so kommt man nicht zu einer angenehmen Nachtruhe. Kurz entschlossen steht er wieder auf und stellt unser Zelt auf. Moskito-freie Zone ! 🙂

Nachts hört man die Kojoten heulen. Etwas Regen, aber nicht so schlimm wie erwartet. Wir können ausschlafen, denn wir haben nur 22 Kilometer in einfachem Gelände vor uns. Das Höhenprofil in unserem Buch sieht wunderbar flach aus.

Unser Feierabend-Platz für heute steht auch schon fest, wir werden vor dem Kennebec River zelten. Diesen Fluss darf man wegen der unberechenbaren Strömungen nicht alleine durchqueren. Es wurde extra ein kostenfreier Boots-Service eingerichtet, mit dem man auf die andere Seite kommt. Allerdings ist jetzt noch Vorsaison, der Fährmann arbeitet nur zwischen 9.00 und 11.00 Uhr vormittags.
Nebel und feuchte Luft. Pfützen, Steine, Wurzeln und Matsch. Nichts los im Wald. Nur die Moskitos sind außer Rand und Band. Die können einem wirklich die Laune verderben. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir den East Carry Pond. Wir folgen ihm ein Stück weit am Ufer entlang bis zu einem kleinen Sandstrand, wo wir Frühstückspause machen möchten. Der See ist am Rand dick mit gelben Blütenpollen überzogen. Das Wasser schmeckt blumig parfümiert, nicht lecker. Ein schwarzer Aal versucht sich frei zu schwimmen. Kabbelige Wellen spülen den Aal immer wieder in Richtung Ufer. Die Nebelwand ist inzwischen so dick, dass man die gegenüberliegende Seite nicht erkennen kann. Schon bald tropft es aus den Nebelwolken, und das ausgerechnet während unserer Pause. 🙁 Schnell essen, Blütenwasser trinken, Regenzeug anziehen und weiter …. An meinem Rucksack sitzt ein sehr merkwürdiges Insekt. Beide haben wir sowas noch nie gesehen. Ziemlich groß, etwa 5 Zentimeter, dicke Augen, 6 Beine …. Sieht irgendwie nicht nett aus. Vom Rucksack habe ich diesen unappetitlichen Käfer gerade herunter geschnippst, da klebt er schon an meinem Poncho. Der will wohl mit. Nein !

Die Tropfen werden immer dicker, es regnet sich ein. Haben noch weitere vier Stunden im Regen vor uns. Der Weg ist gut, wir laufen einfach zügig durch bis zum Pierce Pond. Wir sind von allen Seiten nass. Machen es so wie gestern : Umziehen, Auspacken und Kochen in der Shelter, danach verziehen wir uns in unser Zelt. Privatsphäre ohne stechende Insekten bietet weitaus mehr Schlaf-Qualität.

Unser Lager direkt am See beschert uns ein lautes Frosch-Konzert beim Einschlafen. Regen ohne Unterbrechung bis um 4.00 Uhr in der Frühe. Thomas hat den Platz besonders umsichtig ausgesucht und das Zelt sehr gut abgespannt. Kein Wasser innen, die neue Sintflut haben wir gut überstanden. Kaum stoppt der Regen, da beginnt ein Vogel zu krakelen. Sehr laut, in einem unangenehm hohen und schrillen Ton. Gut – wir sind wach.
Eine waghalsige Konstruktion aus Holzbalken führt um das Ufer des Pierce Pond herum. Darauf sollte man trockenen Fußes am Rand entlang balancieren können. Nach den neuen Regenfällen ist der See allerdings übergelaufen. Der hölzerne Damm steht zum Teil unter Wasser, zudem sind die Balken sehr rutschig.

Drei Bäche führen ebenfalls Hochwasser, die Hälfte der Trittsteine nützt nichts. Wir staunen über eine weitere abenteuerliche Brücke. Ein schmaler Baumstamm zum Überqueren eines Stroms, links und rechts sind weitere Baumstämme zum Festhalten, falls man nicht freihändig balancieren möchte. Das „Geländer“ ist allerdings viel zu niedrig, man muss in die Knie gehen, um dort greifen zu können. Und wenn man vom nassen Holz abrutscht, wird es auf jeden Fall wehtun, wahrscheinlicher noch landet man trotzdem im Fluss. Nicht tief – aber sicherlich schmerzhaft.

Rechts gibt es einen Abzweiger zu den Pierce Pond Wasserfällen. Diesen Umweg sparen wir uns, denn wir können durch die Bäume linsen und sehen genug. Soooo viel Wasser überall ! Wir laufen auf einem schönen Waldweg und folgen einem weiteren Flusslauf. Gutes Vorankommen. Es geht abwärts ins Tal. Nur der letzte Teil ist etwas knifflig, denn wir müssen immer tiefer in die Schlucht bis zum Kennebec River. Dort ist schon Betrieb, zwei Frauen sind gerade übergesetzt worden,  dann sind wir dran. Der altbekannte Fährmann war ein Unikat, aber auch sehr spezielle Leute gehen irgendwann in Pension. Der Neue ist wesentlich jünger und noch nicht ganz so verschroben. Es gibt eine kurze Sicherheits-Einweisung, wir müssen Unterschriften leisten wegen der Versicherung, dann die Schwimmwesten an, und los geht die kurze Fahrt im Dreier-Kanu.


Am anderen Ufer erwartet uns eine Trail Magic in Form von Schoko-Donuts und anderen Schoko-Bisquit-Creme-Törtchen. Etwa 1000 Extra-Kalorien für uns, noch bevor wir wirklich etwas geleistet haben. Die süße Überraschung kommt von einem jungen Paar, welches im Jahr 2017 den Appalachian Trail komplett von Anfang bis Ende gelaufen ist. Die erzählen, dass sie sich auf dem Trail kennen- und liebengelernt haben. Bei der letzten Volkszählung lebten in Caratunk 68 Menschen. Es soll dort sehr nett sein, wie wir von allen aus Norden kommenden Hiker gehört haben. Hin- und Rückweg nur ein Kilometer extra, das gucken wir uns an. In 2012 sind wir an dieser Straße einfach vorbeigelaufen, weil wir keine Zeit hatten. Dauernd nur gestresst vom Ablaufdatum des Visums und weil wir unseren Rückflug bereits in Hanover gebucht hatten. Völlig blöd, sowas passiert uns heute nicht mehr.
Während wir noch überlegen, ob wir geradeaus zu der Häuser-Ansammlung gehen oder der Hauptstraße folgen sollen, hält ein Auto. Das junge Paar von gerade eben, die uns mit Donuts gefüttert haben, möchte uns mitnehmen zu ihrer Unterkunft ganz in der Nähe. Wir erfahren, dass sie morgen dort heiraten werden. Wir würden gerne frühstücken, deswegen fahren wir mit zum Northern Outdoors, wo es Zimmer und ein Restaurant gibt. Bestellen ein opulentes Frühstück mit Eiern, Käse, Speck, Bratkartoffeln, Toast, reichlich Kaffee dazu. Unsere neuen Bekannten gesellen sich zu uns, Geschichten vom Trail werden ausgetauscht, die Zeit vergeht schnell. Thomas möchte die Rechnung bezahlen, aber das ist bereits erledigt. Unser Brautpaar hat schon für uns bezahlt. Wir sind total überrascht von dieser Einladung. Die ehemaligen AT-Hiker möchten ein bisschen was von der Gastfreundschaft zurückgeben, die die selber auf dem Trail erfahren haben. Sie bringen uns auch wieder zurück zum Trail, allerdings machen wir vorher noch eine Extrafahrt zu einem Laden in 10 Kilometer Entfernung, wo es ein neues Mückennetz gibt. Nicht gerade das, was ich mir vorgestellt habe. Es ist so eine Art Chinesenhut, ein kreisrundes Stück Stoff am Oberkopf, darunter ein Netz, das mit Drähten auf Abstand gehalten wird. Es sieht echt bescheuert aus, aber macht nichts, besser als gar kein Moskitonetz. Ab jetzt laufe ich dann eben über den Trail wie ein Imker. Thomas hat seinen Spaß dabei und nennt mich fortan „Oma Chang“. 😉
Am Nachmittag führt der Weg über einen weiteren Berg, den Pleasant Pond Mountain. Das sind mal eben 700 Höhenmeter Anstieg, aber von der netten Sorte. Noch einmal geht es hinauf bis zur Baumgrenze, alpines Gelände mit Rundum-Blick. Superschön bei Sonnenschein. 🙂

Trotzdem erwischt uns weiter unten ein kurzer Regenschauer, so ganz trocken kommen wir nicht durch den Tag. Gegen 19.00 Uhr erreichen wir unser Abendziel, den Baker Stream. Dort sehen wir einen Biber, der aus dem Fluss in Richtung Moxie Pond schwimmt. Aus der Nähe betrachtet ist es ein ziemlich großes Tier. Als er davonschwimmt, da sieht man nur noch den Kopf wie bei einem Seehund. Wir müssen durch den Fluss. Eigentlich kein Problem, wenn es hier nicht von Mücken wimmeln würde. Wir ziehen in Windeseile Schuhe und Strümpfe aus. Zusätzlich sprühen wir uns kräftig mit Mossi-Gift ein, welches wir eigentlich nicht gerne benutzen, weil es gar nicht gesund für die Atemwege ist. Aber die Moskitos machen uns wahnsinnig. Ausziehen ist die Hölle. Ich mag meine Hose gar nicht ablegen, sondern laufe einfach mit langer Hose durch den Fluss. Auch Thomas ist nicht mehr so ruhig, wie man ihn sonst kennt. Die Überquerung ist einfach, allerdings müssen wir mittendrin noch vier Flaschen Wasser füllen. Und die stechenden Biester sitzen überall. Das blaue T-Shirt von Thomas ist schwarz von den Stechviechern, so dicht sitzen sie auf ihm. Die Nerven liegen blank, bis wir uns ein gutes Stück vom Wasser entfernt haben. Gedacht hatten wir, dass das Gelände hier auf Fluss-Niveau und nahe einer Straße ziemlich eben sein müsste. Aber völlig falsch, das war wohl eher Wunschdenken. Wir finden lange keinen Zeltplatz. Das Gelände bietet einfach keine flachen Plätze, der Wald wird immer dichter. Deswegen laufen wir noch eine ganze Stunde weiter als geplant, und das barfuß in Crocs, weil wir ja eigentlich gleich nach dem Fluss Feierabend machen wollten. So kommen wir insgesamt auf 28 Kilometer. Ist schon spät, wird bald dunkel, warmes Essen fällt aus.

Haben uns viel vorgenommen für den neuen Tag, aber es kommt mal wieder anders als man denkt. Zunächst liegt der Moxie Bald Mountain vor uns, insgesamt 5 Kilometer Aufstieg. Nicht besonders schwierig, aber das ist trotzdem kein Gelände für schnelle Meilen. Interessante Felsen stehen dort, Relikte aus der Eiszeit. Wir müssen uns durch enge Spalten quetschen und bewundern die Formationen, die die Natur geschaffen hat. Großflächige Steine mit gerade geschliffenen Kanten, geformt wie geometrische Figuren. Mehrere solcher Steine aneinandergelehnt bilden eine Art Tunnel. Gleich dahinter staunen wir über aufrecht stehende Steine, auf denen eine riesige flache Felsplatte waagerecht liegt. Thomas meint : „Das sieht aus wie eine Bus-Haltestelle.“ Stimmt genau, denn die Steinplatte bildet ein massives Dach mit Vorsprung, damit die Wartenden an der Haltestelle nicht nass werden. Ich sehe das Bild sofort vor mir, kaum dass er es ausgesprochen hat. Ja, man wird schon etwas sonderbar, wenn man so lange Zeit im Wald unterwegs ist. 😉 Knapp an der Baumgrenze gibt es viel freie Fläche mit hellen Felsen, die schön griffig zum Laufen sind. Eine ganze Weile steigen wir weiter an, dann geht es über den Grat. Um 11.00 Uhr erreichen wir den Gipfel. Wunderschön ist es hier oben ! Ein toller Pausenplatz, dafür haben wir extra Wasser den Berg hinauf getragen. Wir haben gerade unsere Haferflocken-Ration aufgegessen, da ziehen dunkle Wolken auf. Die ersten Regentropfen fallen, noch während wir schnell unser Zeug zusammenpacken. Lauter Donner hallt über dem Nachbargipfel, noch mehr schwarze Wolken im Anmarsch, die uns von allen Seiten einkesseln. Es wird Zeit, dass wir hier verschwinden. Noch im Abstieg wird der Regen heftiger, der Himmel öffnet alle Schleusen. Das Wetter in Maine verwöhnt uns gerade nicht besonders. Aus Regen wird Hagel …. Wir ziehen die Köpfe ein und hasten bis zum nächsten Unterschlupf. An der Moxie Bald Mountain Lean-to können wir uns unterstellen und Tee trinken, bis das Unwetter durchgezogen ist. Aber viele Kilometer werden das dann heute wohl eher nicht. Schade, wir würden gerne morgen zur Mittagszeit in Monson ankommen. Um 14.30 Uhr hört der Regen auf. Wir packen schnell unseren Kram, ziehen die nassen Klamotten wieder an und geben Gas. Einfacher Waldweg, Pfützen und Matsch, aber wir kommen zügig voran. Dann überrascht uns der Trail mit einer Fluss-Durchquerung, die nicht in unserem Buch steht. Sehr merkwürdig, da scheint schon wieder etwas mit der Weg-Führung nicht zu stimmen. Ein entgegenkommendes Mädel scheint genau Bescheid zu wissen, die hat allerdings die neuesten Unterlagen aus 2019 dabei. Sie erzählt uns auch, dass ihr das Wasser beim nächsten Fjord bis zur Hüfte gereicht hat. Ja, wir wissen schon, dass eine schwierige Durchquerung vor uns liegt, Wassertiefe deutlich höher als bei den anderen Flüssen. Ein dickes Seil ist von einem Ufer zur anderen Seite gespannt. Es soll zur Sicherung dienen, aber wir haben im Jahr 2012 festgestellt, dass dieses nicht die beste Stelle zum Fjorden ist. Wir suchen uns unseren eigenen Weg über den Fluss, laufen mit kompletter Montur hindurch, weil es so schneller geht. Das Wasser reicht nie mehr als bis zum Oberschenkel. Drüben treffen wir einen jungen Mann beim Schuhwechsel, der auf dem AT von Norden nach Süden unterwegs ist. Kurzes Gespräch und Austausch von Informationen über das, was kommen wird. Dann vergleichen wir die Zahlen …. Die Meilenangaben in seinem Buch stimmen nicht mit denen in unseren Unterlagen überein. Bei der Neuauflage ist der Appalachian Trail 10 Kilometer länger als damals. Das bestätigt mal wieder unseren Eindruck, dass der Trail an manchen Stellen geringfügig umgeleitet wurde. Eigentlich egal, es ist nur wichtig, wenn man haarscharf kalkulieren muss wegen Feierabend-Ziel oder Wasserquelle.
Gegen 17.00 Uhr donnert es erneut am Himmel. Ein Gewitterschauer entlädt sich über uns, so schnell können wir gar nicht reagieren. Wir sind von jetzt auf gleich klitschenass. Eine halbe Stunde später scheint die Sonne wieder. April, April. Das Wetter ist gerade echt nervig hier in Maine. Unverdrossen traben wir weiter, immer direkt am Fluss entlang. Unser Ziel ist es, die Distanz zum Maine Highway deutlich zu verringern, damit wir nicht zu spät in Monson ankommen. Es geht durch eine enge Schlucht immer tiefer, zur rechten Seite haben wir einen rauschenden Fluss. An der Horseshoe Canyon Lean-to machen wir Feierabend. Niemand zu sehen in der Shelter, nur ein Rucksack und einige nasse Sachen hängen dort. Perfekt für uns, dann können wir uns erstmal ungestört sortieren. Es ist ein ewig weiter und steiler Weg zum Wasserholen. Aber alles gut, wir sind froh, dass wir durch Fleiß-Arbeit doch noch Einiges an Kilometern geschafft haben. Thomas baut das Zelt auf, während ich Wasser besorge. Abendessen in der Shelter, das ist viel bequemer als im Zelt auf dem Boden zu sitzen. Drei Schichten Kleidung als Schutz gegen die Moskitos. So geht’s. Wir bekommen Gesellschaft von einem jungen Mann, der in seiner Hängematte etwas abseits bereits geschlafen hat. Er hat schon wieder Hunger, wie alle Hiker auf einem Longtrail, und kocht sich noch einmal eine warme Mahlzeit. Auf den ersten Blick ist er total unscheinbar, aber sehr nett und intelligent. Sein Trailname ist „Over It“ , und er ist erst vor zwei Wochen gestartet, hat noch den ganzen weiten Weg nach Süden vor sich.

Dank unserer Rennerei von gestern Nachmittag trennen uns nur noch 15 Kilometer von der Zivilisation. Das ist auch Arbeit, aber ganz gut an einem halben Tag zu schaffen. Die meiste Zeit geht es sehr angenehm hinauf und hinunter. Nach einem Drittel der Strecke kommen wir an einen Fjord. Wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus, krempeln die Hosen hoch und waten hindurch. Kein Problem, kaum knietief, seichte Strömung. Schuhe und Socken bleiben trocken. Eine Stunde später verliere ich dann den Weg und tappe in ein Bachbett. Flache Kiesel, auf denen man nicht stehen kann, ohne dass die Schuhe nass werden. Ich bemerke meinen Fehler, während ich mit dem linken Fuß schon im Wasser stehe. Beim Umdrehen, um wieder auf den richtigen Pfad zu gelangen, stelle ich aus Versehen auch noch den rechten Fuß in den Bach. Nun sind beide Schuhe nass, und ich ärgere mich über meine eigene Dummheit.
Ein Truthahn flattert aufgeregt im Gebüsch. Auf dem Waldweg liegt eine braune Schlange mit schwarzem Muster, eine Art Natter. Bleibt natürlich nicht dort, sondern schleicht sich davon. Wir sehen deutliche Bären-Kratzspuren an einem Baum und viele, viele Baby-Frösche im Matsch. Nach drei Stunden kommen wir an einen Abzweiger, der direkt nach Monson führen würde. Abbiegen nach rechts ist die kürzere Strecke, es sind nur 3 Kilometer bis in den Ort. Aber das ist nicht der „richtige“ Appalachian Trail. Wir folgen weiterhin den weißen Zeichen, bleiben auf der Original-Route, die 5 Kilometer länger ist.
Um 12.00 Uhr kommen wir aus dem Wald heraus. Super Zeit – wir sind wieder ohne Frühstück und ohne Pause durchgelaufen. Haben den Daumen noch gar nicht ausgestreckt, da hält bereits ein Auto für uns. Das ist ja der Wahnsinn ! Was die Hilfsbereitschaft der Leute in Maine angeht, da haben wir gerade echt eine Glückssträhne. Es stellt sich heraus, dass der junge Mann im Wagen selber den ganzen AT 2017 gelaufen ist. Er kennt also die Situation aus eigener Erfahrung sehr gut, dass Hiker am Waldrand stehen und eine Fahrgelegenheit in die Stadt brauchen. An unseren Rucksäcken hat er sofort gesehen, dass wir nach Monson möchten. Sehr netter Empfang in Shaw’s Hiker Hostel. Wir bekommen zur Begrüßung eine Dose Bier in die Hand gedrückt, die wir erstaunlich gut vertragen. Das Zimmer ist so lala – nur ein Doppelbett drin, sonst nichts. Gemeinschaftsbad im Haupthaus, unser Raum befindet sich in einem Nebengebäude, also etwas lästig. Aber viel Auswahl gibt es in Monson ohnehin nicht, es ist mit seinen knapp 700 Einwohnern auch nur ein weiteres kleines Dorf in Maine. Man nennt es „Das Tor zur 100-Mile-Wilderness“. Alle Wanderer, ob von Norden kommend oder nach Süden ziehend, machen hier einen Stopp zum Ausruhen und Einkaufen.
Im Büro der Appalachian Trail Conservancy informieren wir uns über die aktuellen Regularien im Baxter State Park. Ganz optimistisch tragen wir uns in den ausliegenden Kalender ein mit dem voraussichtlichen Datum 01.07.2019 als Gipfeltag. Das ist allerdings stark wetterabhängig, weil wir die letzte Besteigung nur bei guten Bedingungen machen werden.
Die vergangene Woche war für uns sehr anstrengend, körperlich überhaupt nicht, aber mental gesehen. So viel schlechtes Wetter, Regen und Matsch hatten wir im ersten Monat nicht. Das schlimmste Übel aber sind die stechenden Insekten, die wirklich an den Nerven zerren. Es gibt einfach keine Ruhe vor den Moskitos und Black Flies, keine entspannte Pause, kein gemütliches Sitzen vor’m Zelt am Abend. Psycho-Terror ! 🙁 Zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir sind nicht böse, wenn wir diesen Teil der USA verlassen können.
Thomas hat seine Stöcker geschrottet und bekommt in der angegliederten Werkstatt neue Tipps. Wir machen den letzten Einkauf für die 100-Mile-Wilderness, Essen für 6 Tage, Batterien, Wassertropfen, Gas für den Kocher. Die Nähte unseres Zeltes werden neu versiegelt, kleine Löcher geflickt. Im Aufenthaltsraum unserer Herberge erlebe ich eine Überraschung, als ich mein Bild in Farbe gedruckt im Hiker-Jahrbuch 2014 finde. Ich kann mich vage dran erinnern, dass ich damals bei den Trail Days in Damascus fotografiert wurde, hatte es aber komplett vergessen. Nun sehe ich nicht nur mein Bild im Buch, sondern auch noch die Fotos einiger alter Bekannter, mit denen ich gleichzeitig auf dem AT gelaufen bin. Das ist wirklich eine schöne Erinnerung. 🙂

Habe mich schlau gefragt : Das hässliche Insekt an meinem Rucksack war die Larve einer „Dragonfly“ , eine Groß-Libelle. Unser gesundheitlicher Zustand ist sehr gut. Das rechte Knie von Thomas ist in Ordnung, das linke auch besser als sonst. Da macht es sich schon positiv bemerkbar, dass wir nicht mehr jeden Tag so viele Höhenmeter mit steiler Kraxelei zu bewältigen haben. Der große Zeh meines linken Fußes ist blau, da wird sich wohl in absehbarer Zeit der Fußnagel verabschieden. Ich muss meine Hose enger nähen, habe 7 Kilo abgenommen in 5 Wochen. Macht ja nichts. 😉 In unserem Awol-Handbuch sind nur noch 5 Seiten übrig, die wir in der kommenden Woche abarbeiten möchten. Die nächste und letzte Etappe wird mit 110 Meilen, das sind 177 Kilometern, unsere längste auf dem AT sein. Wir rechnen mit ca. einer Woche, bis wir an der Abol Bridge aus der Wilderness herauskommen. Dort gibt es einen Campingplatz, ein Restaurant und einen kleinen Laden. Von dort aus müssen wir noch einen halben Tag weiter bis zum Basecamp, um am nächsten Tag den Gipfel in Angriff zu nehmen. Der schwierige Aufstieg auf den Mount Katahdin wird den krönenden Abschluss bilden, gleichzeitig auch die Beendigung meines 2014 begonnenen AT-Solo.