Wir segeln und wandern durch die Welt

AT 6. Woche / Monson – Mount Katahdin

Die 100-Mile-Wilderness ist eigentlich nicht spektakulär. Das Besondere auf dieser Etappe ist, dass man nicht so einfach heraus kommt. Man muss sich bewegen, wenn man nicht für 10 Tage Essen tragen will. Die Wilderness wird als der ursprünglichste und wildeste Abschnitt des Appalachian Trails bezeichnet. Die Strecke ist zum Laufen gemacht, auch wenn die unzähligen dicken Wurzeln stören, für die Maine bekannt ist. Es ist also ein Weg mit vielen Stolperfallen. Eine weitere Besonderheit dieser Etappe sind die vielen Flüsse, die den AT kreuzen. Laut unserem Handbuch sind es insgesamt 15 größere Ströme, die wir auf dem weiteren Weg nach Norden durchqueren. Regen ist da gar nicht gut, denn wenn die Wasserstände steigen, wird man ausgebremst und muss schlimmstenfalls 1-2 Tage am Ufer abwarten. Dann könnte es knapp werden mit dem Proviant.

Ausschlafen gibt es nicht in Shaw’s Hiker-Hostel. Aufstehen um 6.00 Uhr, Kaffee ab 6.30 Uhr, Frühstück um 7.00 Uhr, Abfahrt um 8.15 Uhr. Straffes Programm für Long-Distance-Hiker, denn die wollen viele Meilen am Tag machen. Es gibt ein opulentes Frühstück mit 3 Spiegeleiern, Bratkartoffeln, gebratenem Speck, Blaubeer-Pfannkuchen „All you can eat“, dazu Saft und Kaffee bis zum Abwinken. Der Chef persönlich bringt uns zurück zum Trailhead, zusammen mit einem jungen Mann, der Indigo genannt wird, und einem Mädel mit Trailnamen Turtle. Unterwegs gibt es noch interessante Geschichten und Informationen über die Wilderness zu hören. Am Eingang zum Wald steht ein Schild mit einem Warnhinweis. Man soll diese lange Etappe nicht unterschätzen und mindestens für 10 Tage Proviant haben. Wir haben für 5 Tage eingekauft, Turtle rechnet ebenfalls mit 5 Tagen, Indigo trägt nur für 4 Tage Essen. Das ist schwer genug. Bei Shaw’s konnten wir unsere Rucksäcke wiegen, Thomas hat 13,5 Kilo, ich trage 12,5 Kilo, jeweils ohne Wasser. Reicht. Wir laufen lieber mehr, damit wir schneller durchkommen. Ein Holzkasten markiert den Eingang zur Wilderness, hier muss sich jeder Wanderer registrieren und eine Karte ausfüllen.

Gleich nach dem Start beginnt die Seen-Landschaft von Maine. An einem Wasserfall machen wir Pause und treffen auf eine kleine Gruppe, die etwas desorientiert erscheint. Ein Paar mit einer älteren Dame, die ihren Stock verloren hat, der nun quer im Wasserfall festhängt. Thomas hilft bei der Bergung und stapft barfuß auf die Fels-Terassen, um den Wanderstock von Oma zu retten. Die Drei wissen nicht, wo der Trail weitergeht. Auch da können wir helfen. Wie wir hören, ist die ältere Frau schon 70 Jahre und bereits mehrfach gestürzt. Dem ist wohl nicht zu helfen, die sollte lieber umdrehen. Es geht weiter an einem halben Dutzend Seen entlang, die den AT zu beiden Seiten einrahmen und offensichtlich das Lieblingsrevier der Moskitos sind. Viele Libellen in schillernden Farben sind unterwegs, außerdem Spinnen von beachtlicher Größe. Um 13.00 Uhr nimmt die Bewölkung zu, aber das Wetter hält sich noch bis zum späten Nachmittag. Laut unserem Handbuch sind heute 3 Fjorde nacheinander zu bewältigen. Den Little Wilson Stream merken wir kaum, da kommen wir trocken auf Felsbrocken hinüber. Der Big Wilson Stream ist deutlich tiefer. Ein Seil ist zur Sicherung von einem Ufer zum anderen gespannt. Wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus, waten in Crocs auf die andere Seite. Das Wasser reicht bis über die Knie, die Steine sind sehr glitschig. Dann müssen wir um einen Teich herum, ganz nahe an der Wasserkante entlang. Ein Biberdamm aus großen und kleinen Ästen ist der Trail. Wir balancieren auf diesem wackeligen Totholz, bis es wieder einen eindeutigen Weg gibt. Im See stehen und liegen unzählige kaputte Bäume kreuz und quer durcheinander, das sieht aus wie ein Baum-Mikado. Neblig ist es über dem Wasser.

Auch der dritte Fjord ist knietief, hat aber deutlich mehr Strömung als die vorherigen. Am Wilber Brook ziehen wir nochmal Schuhe und Strümpfe aus, kommen tatsächlich mit trockenen Füßen davon. An der Long Pond Stream Lean-to könnten wir den Tag beenden, aber dort gibt es keinen geraden Zeltplatz und einige Leute, die uns nicht passen. Ein Feuer brennt bereits, es stinkt und qualmt, Party-Stimmung, zugekifft oder betrunken, nichts für uns. Deswegen laufen wir noch ein Stündchen weiter bergauf, bis wir eine halbwegs ebene Stelle  im Wald finden. Keine Sekunde zu früh, das Zelt ist gerade fertig aufgebaut, als es anfängt zu regnen. Das nette Mädel „Turtle“ läuft vorbei, die hatte wohl auch keine Lust auf die Gesellschaft an der Shelter.

Die ganze Nacht heftiger Regen, aber wir haben keinen Schaden genommen. Sind schon um Viertel nach 5 wach und früh unterwegs. Die Welt ist wieder grau und neblig, es tropft von den Bäumen. Ich laufe voraus und bin wohl die erste auf dem Trail, denn viele Spinnweben versperren den Weg. Wir müssen einige Hügel übersteigen. Zunächst geht es 1,5 Stunden bergauf über die Barren Ledges. Je höher wir kommen, umso schöner wird das Wetter. Um 9.00 Uhr erreichen wir den ersten Gipfel, wo wir uns direkt über den Wolken befinden. Blauer Himmel und Sonnenschein über dem Barren Mountain. Dort steht ein alter Feuerturm, den man auf einer Leiter erklimmen kann. Tolle Aussicht, es lohnt sich. 🙂 Turtle kommt ebenfalls kurz nach uns oben an und leistet uns Gesellschaft bei der Pause.

Der Abstieg ist schwieriger als erwartet, es gibt also doch noch steile Passagen. Im ersten Tal laufen wir auf Holz-Stegen durch ein weites Sumpfgebiet, welches unter Naturschutz steht. Zu beiden Seiten staunen wir über perfekt gewachsene Farne und weinrote Blüten, die wir bisher nie gesehen haben. In den tiefen Blütenkelchen steht noch das Regenwasser der vergangenen Nacht.

Ein mysteriöser Nebelwald umgibt uns, völlige Stille, keine Tiere. Der nächste Hügel ist der Fourth Mountain, danach wieder Abstieg, nächster Anlauf bis zum Gipfel des Third Mountain. Hinauf und hinunter, wieder hoch auf den Columbus Mountain, abwärts ins Tal, neuer Anstieg zum Chairback Mountain. Von da aus geht es steil bergab. Die Felsen sind glatt, mehr als einmal rutschen wir aus. Viel Geraffel, kein schnelles Vorwärtskommen. Es hat zwar den ganzen Tag nicht geregnet, aber dichter Nebel umgibt uns, und dicke Tropfen fallen aus den Wolken. Unser Ziel für den Abend ist der West Branch Pleasant River, ein weiterer Fjord, den wir gerne hinter uns bringen möchten. Dieser Fluss ist nicht tief, aber dafür ca. 30 Meter breit und mit glitschigem Grund. Die Durchquerung klappt sehr gut bei niedrigem Wasserstand. Auf der anderen Seite stellen wir unser Zelt auf. Eine Holzbank bietet willkommene Sitz-Gelegenheit zum Kochen und Essen. Aber das geht gar nicht, die Moskitos fressen uns auf ! Was für ein Horror ! So schmeckt das Essen nicht. Wir sind erleichtert, als wir uns endlich im Zelt entspannen können, nachdem wir ein Dutzend dieser Stech-Biester totgeschlagen haben. Am Ende des Tages sind wir über fünf Berge geklettert und haben 26 Kilometer zurückgelegt. Grillen zirpen, Frösche quaken, der Fluss rauscht beruhigend. Sind schon beinahe eingeschlafen, noch bevor wir uns richtig zurechtgeruckelt haben.

Der Wecker klingelt um 5.00 Uhr. Ja, wir sind fleißig. Ausschlafen können wir nach der Wilderness wieder. Die Mückenplage nimmt kein Ende. Man traut sich kaum aus dem Zelt. Nachts musste ich einmal nach draußen, ganz kurz Pipi machen. Sofort hatte Thomas zwei Mücken am Ohr kleben. Weitere 7 Stück haben wir abgeklatscht, bevor wir dann endlich wieder einschlafen konnten. Morgens kommen schon um 6.00 Uhr zwei Männer vorbei, die unendlich lange brauchen, um sich für die Fluss-Querung bereit zu machen. An unseren Plastik-Schüsseln vom Abendessen kleben 3 Nacktschnecken, am Poncho, der zum Trocknen aufgehängt war, schleimen weitere 4 Schnecken alles voll. Ich liebe Outdoor. 😉 Noch einmal liegt ein Tag mit ordentlich Aufstiegen vor uns. Zur Linken stürzt ein Wasserfall in die Tiefe. Wir sehen frische Elch-Spuren im Matsch. Frösche in verschiedensten Variationen fühlen sich wohl in dieser feuchten Umgebung. Bisher dachte ich immer, dass alle Frösche gleich aussehen, so wie alle Tauben grau sind …. Aber es gibt so viele Farben und Muster, wenn man genauer hinsieht. Ein großer Frosch ist braun mit schwarzen Punkten. Ein anderer ebenfalls braun, aber kleiner, hat einen schwarzen Längsstreifen in der Mitte über dem gesamten Körper. Dann sehen wir einen Frosch in dunkelbraun mit hellbraunen Flecken an den Seiten. Gar nicht langweilig, wenn man Zeit hat, diese Unterschiede wahrzunehmen.
Eine Gardener Snake schlängelt vor uns auf dem Weg, fast schon eine alltägliche Begegnung. Unser erster Anstieg auf leichtem Waldweg ist richtig schön. Nur das Hühnerauge von Thomas schmerzt, es muss in der Pause neu verarztet werden. Eichhörnchen jagen durch die Büsche, die Streifenhörnchen haben Nachwuchs. Rauf, runter, rauf, runter, rauf, runter. Es geht über drei Hügel zum Warmwerden, dann folgt der Anstieg auf den White Cap Mountain. Das ist noch einmal ein richtiger Berg mit 3650′ Fuß Höhe knapp an der Baumgrenze. Der Weg führt über Naturstein-Stufen in brauchbarem Abstand bis auf den Gipfel. Je höher wir kommen, umso mehr geraten wir in dichten Nebel. Beim Abstieg erhaschen wir zwischen den Wolken einen ersten Blick auf unser Endziel, den Mount Katahdin, der noch sehr weit weg erscheint.

Bisher sind wir den ganzen Tag nur aufgestiegen, insgesamt über 18 Kilometer. Das ist anstrengend, aber der Trail ist eindeutig gut, da kann man nicht meckern. Wir haben Durst. Oben gibt es kein Wasser, das war klar. Aber natürlich trägt man nicht mehrere Liter Wasser über die Berge, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Ab jetzt geht es nur noch bergab – wie nett. An der Logan Brook Lean-to machen wir kurz Pause, holen Wasser und trinken Jeder einen Liter. Eindeutig zu viel los hier, wir gehen bald weiter. Auch in den nächsten zwei Stunden kommen uns noch einige Leute entgegen, die alle zur Shelter streben. Wir sind froh, dass wir mit unserem Zelt unabhängig sind. Donnergrollen am Himmel, aber es ist noch in einiger Entfernung. Hoffentlich zieht das Gewitter vorbei. Kurz vor Feierabend liegt ein weiterer Fjord vor uns. Niedrigwasser, dicke Steine im Fluss, auf denen wir durch Springen und Balancieren trocken auf die andere Seite kommen. Fluss bedeutet verstärkten Moskito-Alarm. Wir haben keine Lust, uns unnötig lange draußen aufzuhalten, schmeißen einfach nur die kompletten Rucksäcke ins Zelt. Auspacken, Kochen, Essen findet im Zelt statt. Nur noch einmal raus zum Abwaschen, Zähneputzen, Pipi machen, dann die Eindringlinge töten und Ruhe. Haben 30 Kilometer geschafft, damit liegen wir gut im Zeitplan. Thomas ist wund gescheuert vom Schwitzen und Tragen. Puder hilft hoffentlich über die nächsten Tage.

Frosch-Konzert in der Nacht. Gewitter ab 1.00 Uhr in der Frühe, sintflutartiger Regen pladdert auf’s Zeltdach. 5.00 Uhr klingelt der Wecker. Es tropft nur noch leicht. Die Moskitos hängen bereits am Netz und warten auf unser Blut. Vom nahegelegenen Teich ertönen die Rufe eines Eistauchers. Schwarz-weiße Schmetterlinge sind unterwegs, ähnlich groß wie die Monarchfalter. Ein Rebhuhn macht links vom Trail Spektakel, um seine Jungen zu warnen und uns Menschen abzulenken. Mit lautem Geschrei und Geflatter kreuzt es auf die andere Seite, während der Nachwuchs zurückbleibt. Ich finde ein Moskitonetz, welches sicherlich Jemand schmerzlich vermissen wird, und stecke es ein. An der legendären Jo Mary-Road gibt es eine Verschnaufpause. Das ist die einzige Straße, die während dieser Etappe den Appalachian Trail kreuzt. Total abgelegen, kaum befahren, kein Haus weit und breit. Wir befinden uns jetzt ziemlich genau in der Mitte der 100-Mile-Wilderness. Es sind mehr als 160 Kilometer von Monson bis zur Abol Bridge, wo es einen Campingplatz mit kleinem Laden und Restaurant gibt. Bis zum Basecamp vor dem Mount Katahdin sind es knapp 180 Kilometer, danach braucht man noch einen weiteren Tag für den Aufstieg zum Gipfel. Da darf man nicht bummeln. Laufen, laufen und nur noch laufen.
Wir schrecken einen männlichen Weißwedelhirsch auf, der mit aufgerichtetem weißem Schwanz flüchtet. Es handelt sich um die häufigste Hirschart Nordamerikas. Etwas später sehen wir noch ein Weibchen aus der Nähe. Dieses ist sehr freundlich, wackelt mit den Ohren, wedelt mit dem Schwanzbüschel wie ein Hund.
Thomas stoppt so plötzlich, dass ich beinahe auf ihn pralle. Direkt neben dem Weg liegt eine Schnapp-Schildkröte im von der Sonne angewärmten Sand. Diese Art ist nur in Nord-Amerika verbreitet. Der Durchmesser des Panzers beträgt ungefähr 40 Zentimeter, dicker Kopf. Das Tier ist also ziemlich massig, der Schwanz hat auf der Oberseite Zacken aus Horn. Schnappen die eigentlich wirklich ? Ja, diese Art kann ihren Kopf nicht vollständig in den Panzer zurückziehen. Deswegen haben sie einen besonders starken Kiefer entwickelt, mit dem sie kräftig zubeißen können, wenn sie sich bedroht fühlen. Die Schnapp-Schildkröte ist bekannt dafür, aggressiv zu sein. Unsere bewegt sich nicht von der Stelle, sie bleibt ganz ruhig und entspannt.

Schon wieder müssen wir durch einen breiten Fluss. Es sieht interessant aus, auf jeden Fall nicht ganz so einfach. An der Stelle, wo der Trail quert, liegen einige morsche Baumstämme übereinander im Wasser. Sie bilden eine sehr instabile Brücke, schmal und wackelig. Zusätzlich ist ein Seil von einem Ufer zum anderen gespannt, an dem man sich festhalten könnte. Wenn das doch bloß nicht so elastisch wäre …. Ein Gummiseil, das nachgibt und federt, wenn man es nur anfasst. Ich habe kein großes Vertrauen in diesen Übergang, aber Thomas macht es vor. Er stellt sich quer auf die wackeligen Holzstücke, streckt die Arme zur Seite durch und hält das Gummiseil auf Spannung. Aha – so funktioniert es. Man muss sich nur ins Seil fallenlassen, damit die ganze Sache stabilisiert wird, und sich dann mit kleinen Schritten quer auf dem Balken vorwärts tasten. Da wäre ich nie drauf gekommen. Ich hätte versucht, mich am Seil festzuhalten und hätte garantiert das Gleichgewicht verloren.
Gegen 14.30 Uhr erreichen wir die Antlers Campsite. Was für ein toller Platz ! Direkt an einer Ecke des Jo Mary Lakes gelegen bietet er allerschönste Zeltplätze, Picknick-Tische und ein Privy. Einige der Parzellen sind auf einer kleinen Landzunge angesiedelt, die ein Stück in den See hineinreicht. Es weht ein angenehmer Wind, und die ganze Szenerie ist beinahe Moskito-frei. Zu schade, dass wir nicht hierbleiben können. Es ist noch zu früh. Der Weg verläuft weiter um den Jo Mary Lake herum. Ein kleiner Seitenweg führt zu einem weißen Sandstrand. Sehr verlockend, bei so einem fantastischen Pausenplatz können wir nicht widerstehen. Es wird noch besser, denn wie wir schon bald feststellen, gibt es hier kaum stechende Insekten. Ein paar Minuten Bedenkzeit, dann wagen wir es, uns auszuziehen. Die Sonne scheint, das Wasser ist trotzdem eiskalt. Aber es tut gut, sich den Schmutz und Schweiß der letzten Tage von der Haut zu spülen. Zum Trocknen bleiben wir noch eine Weile nackt im warmen Sand sitzen. Handtuch haben wir natürlich nicht dabei. Pause tut gut, Pause ist schön. Aber, wie sagt Thomas doch so treffend : „Der Katahdin kommt nicht zu uns.“ Also weiter …. Herrlich erfrischt geht es auf die letzte Etappe des Tages.
Als Nächstes kommen wir zu einem Aussichtspunkt, wo wir den Mount Katahdin in voller Pracht bewundern können. Thomas nennt ihn „unseren Schicksalsberg“. Für mich ist der Gipfel des Katahdin das Ende einer langen Reise, die im März 2014 begonnen hat. Die Entfernung beträgt immer noch 50 Meilen, das sind 80 Kilometer. Wolkenloser Himmel, unglaublich klare Sicht, einfach perfekt. 🙂


Wir treffen einen jungen Mann, den wir bereits vor ein paar Tagen einmal überholt haben. Er kämpft gerade mit dem Moskitonetz seiner Hängematte und versucht, das viel zu große Ding irgendwie um den Kopf zu drapieren. Wir sind nicht die Einzigen, die unter den Blutsaugern leiden. Wie gut, dass wir ein Mückennetz gefunden haben. Schnell wird es aus dem Rucksack gekramt und wechselt erneut den Besitzer. Der entnervte Hiker ist hocherfreut über das unerwartete Geschenk. Dafür finden wir etwas später eine kleine Sprühflasche mit Mücken-Gift 40 % Deet. Das können wir wiederum sehr gut gebrauchen, weil unseres gerade leer ist. Es gibt ein Sprichwort : „Der Trail nimmt, und der Trail gibt.“ Sehr richtig – das haben wir schon öfter erlebt.
Ein Abzweiger führt zum White House Landing, wo viele Wanderer die lange Passage durch die Wilderness unterbrechen. Das ist ein edles Hostel, wo man übernachten, duschen und essen kann. Uns war es damals schon zu teuer, und ist es heute sicherlich auch noch. Das ist es uns nicht wert, wir laufen einfach vorbei. Ein weiterer Fjord stellt ein größeres Hindernis dar. Der Tumbledown Dick Stream ist ein breiter Fluss mit quirligem Wasser. Ich sehe keine Chance, trocken auf die andere Seite zu kommen. Würde jetzt eigentlich gerne Schuhe und Strümpfe ausziehen, aber Thomas sucht einen abenteuerlichen Weg nach drüben. Im Fluss liegen Baumstämme, Bretter, Äste, mittendrin wächst ein Baum mit dicken Wurzeln. Mit viel Geduld und Turnerei schaffen wir es ans andere Ufer. Dauert seine Zeit, aber die Schuhe bleiben tatsächlich trocken.

Laut unseren Unterlagen haben wir noch einen weiteren Fjord zu erwarten, den Nahmakanta Stream. Danach möchten wir Feierabend machen. Kommen an einem kleinen Strom, der unseren Weg kreuzt. Das Wasser plätschert seicht bergab, ein paar dicke Kieselsteine liegen im Flussbett. Da stapfen wir doch einfach durch. Auf der anderen Seite führt eine Treppe die steile Böschung hinauf. Weiter geht’s, wir möchten ja noch durch den Fluss …. Passiert aber irgendwie gar nichts mehr, der Trail führt beständig am linken Ufer entlang, ohne dass wir noch einmal durch’s Wasser müssen. Hm, dann war das wohl der letzte Fjord, haben wir gar nicht bemerkt. Wir laufen immer weiter, bis die Sache eindeutig ist. Wir sind dran vorbei, die Nahmakanta Campsite liegt einen Kilometer hinter der Fluss-Durchquerung. Auch gut – da sind wir weiter gekommen als geplant.
Mit mehr als 35 Kilometern heute sind wir sehr zufrieden, das ist neuer Rekord auf dieser Etappe.

Wir erleben eine laue Sommernacht, die hell erleuchtet ist von Glühwürmchen. Diese Käfer senden Leuchtsignale aus, damit männliche und weibliche Tiere zur Paarungszeit zueinander finden. Hübsch anzusehen, aber bitte nur aus dem sicheren Zelt heraus. Ich mag abends nichts mehr trinken, damit ich nicht raus muss. Möglichst schnell durch eine kleine Öffnung nach draußen, völlig gestresst von neuen Stichen zurück ins Zelt, um dann eine weitere halbe Stunde die Eindringlinge zu jagen. Nein, das macht keinen Spaß. 🙁
Aufstehen wieder um 5.00 Uhr. Es soll unser vorletzter Tag in der Wilderness sein. Der Weg ist sehr gut, das Gelände angenehm flach mit einigen kleinen Huppeln. Ein Aufstieg ist uns in lebhafter Erinnerung geblieben : Vom Aussichtspunkt des Nesuntabunt Mountain hat man einen tollen Blick auf den Katahdin. Dummerweise bin ich 2012 nach einer Pause aus Versehen auf derselben Seite wieder hinunter und habe erst zwei Stunden später gemerkt, dass ich verkehrt herum gelaufen bin. Thomas war erst nach einiger Zeit aufgefallen, dass ich verloren gegangen bin. Er kam mir dann in falscher Richtung entgegen, um mich abzuholen. 😉 Komische Pilze wachsen hier in der Gegend.

Noch einmal flattert eine aufgeregte Rebhuhn-Mutter vor uns auf und macht ordentlich Lärm, um ihre Kleinen zu schützen. Kurze Pause zum Wasserholen und Trinken am Ufer des Crescent Pond. Das ist ein wirklich hübscher See, sauber mit bequemen Felsen. Der Abfluss vom Murphy Pond dagegen ist ein reißender Strom. Wir staunen immer wieder darüber, woher wohl das viele Wasser kommt. Es gelingt uns, auf Baumstämmen und Brettern dieses Hindernis trocken zu überwinden. Kurz darauf erreichen wir die Rainbow Stream Lean-to. Dunkel und schmutzig ist die Shelter, irgendwie gruselig. Es sind keine zwei Stunden um seit der letzten Pause, aber das Laufen fällt zunehmend schwer. Wir sind mittags schon müde. Inzwischen bin ich auch wund. Vor uns liegt ein Fjord, der nicht in unserem Buch beschrieben ist. Da müssen wir auf jeden Fall Schuhe und Strümpfe ausziehen, die Hosen hochkrempeln und durch. Weiter geht es immer entlang des aufgewühlten Flusses, an Wasserfällen vorbei bis zum Rainbow Lake. Dort glaube ich, eine Geister-Erscheinung zwischen den Bäumen zu sehen. Als wir näher ans Ufer kommen, da erkennen wir einen Mann, der auf einem Kanu ganz langsam über den See gleitet. Er ist komplett in weiß gekleidet, weiße Shorts, weißes T-Shirt, weißer Hut, und bewegt sich geräuschlos in einem weißen Alu-Kanu vorwärts. Das wirkt wirklich surreal, wir kommen uns vor wie im Film. Der Rainbow Lake sieht richtig einladend aus. Gelbe Seerosen verzieren das tiefblaue Wasser des Sees. Leider hat es inzwischen angefangen zu regnen, deswegen sind alle Blüten geschlossen. Das sieht jetzt aus, als würden Dutzende von Zitronen auf dem Wasser treiben. Feuchter Weg am Ufer bedeutet immer, dass wir gut auf die kleinen Frösche und Salamander aufpassen müssen, damit sie nicht unter unsere Füße geraten. Eigentlich hatten wir uns die Rainbow Spring Campsite als Tagesziel ausgesucht. Dort gibt es gerade Flächen und eine Spring mit Quellwasser. Aber es ist Wochenende und viel zu viel los für unseren Geschmack. Da stehen sicherlich 10 Zelte dicht an dicht, einige Thru-Hiker, die wir kennen, aber noch viel mehr Wochenend-Camper. Keine Lust drauf, wir eilen schnell weiter. Leider ist der Weg total uneben, der Wald sieht aus wie Kraut und Rüben, dichtes Gestrüpp zwischen umgefallenen Bäumen. Das haben wir uns jetzt selber gebacken, wir müssen noch drei Kilometer weiter, bis wir nach langer Suche den scheinbar einzigen geraden Platz am Wegesrand finden. Schon wieder Moskito-Alarm, wir sind genervt und total kaputt. Aber alles, was wir heute mehr gelaufen sind, wird uns morgen nützen. 32 Kilometer geschafft, nur noch 15 Kilometer bis zur Abol Bridge, wo wir dann aus der Wilderness heraus sind.

Nachts regnet es – schon wieder. Stehen natürlich um 5.00 Uhr auf. Kaffee gibt es keinen mehr, die Vorräte sind am Ende. Also sind wir noch früher unterwegs als sonst. Irgendwie sind wir auch ein bisschen aufgeregt, wie immer, wenn es in die Zivilisation geht. Zunächst führt der Trail hinauf zu den Rainbow Ledges, wo wir einen Blick auf den Mount Katahdin werfen können, der jetzt schon ganz nah ist. Um 9.00 Uhr fängt es an zu regnen, erst nur ein paar Tropfen, so dass man denken könnte : Das meiste fällt vorbei. Dann schüttet es heftig. Thomas bleibt zurück und macht sich wasserfest. Ich habe keine Lust zum Anhalten und Umziehen, renne einfach weiter bis zur nächsten Shelter. Auf dem Weg dahin liegen zwei Ströme zum Durchqueren, aber das ist nun auch egal, wo sowieso schon alles nass ist. An der Hurd Brook Lean-to machen wir Frühstückspause und kochen unsere Haferflocken mit Kakao, damit wir gleich im Restaurant nicht so viel Geld ausgeben. Von dort sind es noch 6 Kilometer weiter, bis wir aus dem Wald heraus sind. Geht immer leichter zum Abschluss einer Etappe, wir reden nicht mehr, sondern rennen einfach nur schnell, um die Straße zu erreichen ! Was für ein tolles Gefühl, nach 5 Tagen strammen Laufens durch den Urwald endlich wieder Licht zu sehen ! Und wir trauen unseren Augen kaum, als wir in einer Parkbucht das Auto von Fresh Ground entdecken. Da steht unser Freund inmitten seiner Pfannen und Friteuse. Neben der aufgebauten Küche gibt es dort eine Wasch-Station und einige Picknick-Stühle. Das Ganze ist mit breiten Planen als Regenschutz abgespannt, selbst die Rucksäcke kann man trocken abstellen. Mücken-Spiralen qualmen, Moskito-Spray steht bereit. Der Mann hat einfach an Alles gedacht und freut sich über jeden Wanderer, der hungrig anhält. Ein kleiner Auflauf von jungen AT-Hikern hat sich gebildet. Es gibt einen regen Austausch von Geschichten und Hiker-Tratsch. Unter Anderem erfahren wir, dass das Restaurant an der Abol Bridge in der Vorsaison nur Frühstück anbietet, aber jetzt zur Mittagszeit geschlossen ist. Wir hatten darauf spekuliert, dass wir dort eine richtige Mahlzeit bekommen. Unser Proviant ist aufgebraucht, und morgen ist auch noch ein anstrengender Tag. Das wäre eine herbe Enttäuschung geworden, wenn wir hungrig vor der verschlossenen Tür gestanden hätten. Fresh Ground rettet unseren Tag ! 🙂 Kochen kann er echt gut, er ist mit Leib und Seele dabei. Wir essen und essen …. Taco-Schalen gefüllt mit gebratenem Hackfleisch, Käse und Sauercreme, Hot Dogs, selbstgemachte Pommes, rohes Gemüse mit Dip, dazu trinken wir zwei Dosen Cola. Nach zwei Stunden bedanken wir uns, verabschieden uns herzlich von unserem Wohltäter und hoffen, ihn nächstes Jahr wiederzusehen.
Satt und ausgeruht nach der langen Pause und dem guten Essen erreichen wir die Abol Bridge. Kleiner Einkauf im Camp-Store, unfreundliches Personal, viel zu teuer. Aber wir brauchen unbedingt ein paar Snacks für die morgige Gipfel-Besteigung. Kurz dahinter befindet sich die Grenze zum Baxter State Park. Von dort müssen alle AT-Hiker noch 16 Kilometer weiter bis zum Katahdin Stream Campground, wo wir übernachten wollen. Keine Pause, strammes Laufen. Wir haben zwei Mal den Katahdin Stream vor uns, den wir überqueren müssen. Heute führt der Fluss viel Wasser. Ein paar Minuten suchen wir nach einer geeigneten Stelle mit Trittsteinen, aber die sind zum Teil überspült und sehen sehr glatt aus. Das ist uns zu gefährlich, so kurz vor dem Ende wollen wir nicht leichtsinnig werden. Schuhe und Strümpfe ausziehen ? Wir sehen uns einen Augenblick an und sind einer Meinung. Keine Lust, das hält nur auf. Wir latschen einfach mit kompletter Montur durch den Fluss, denn spätestens morgen kriegen wir die Sachen wieder trocken. Die Abzweiger zu den Big Niagara Falls und Little Niagara Falls lassen wir links liegen. Auch die Katahdin Stream Falls interessieren uns nicht wirklich. Wir möchten endlich ankommen !


Um 17.00 Uhr erreichen wir die Ranger Station, an der wir uns registrieren müssen. Niemand da, obwohl laut Schild an der Tür eigentlich geöffnet sein sollte. Auf der Veranda warten bereits einige der jungen Leute, die uns heute überholt haben. Nachdem wir etwa 20 Minuten geduldig waren, schreiben wir uns in eine Liste zur Selbst-Registrierung ein, tragen die Nummer eines freien Platzes ein und bauen dort unser Zelt auf. Eine Wäscheleine zum Trocknen unserer nassen Sachen wird zwischen die Bäume gehängt, der komplette Inhalt der Rucksäcke ist auf dem Picknick-Tisch ausgebreitet. Gerade haben wir uns häuslich eingerichtet, da erscheint eine Dreier-Gruppe mit Auto. Sie haben den Platz reserviert, was aber nirgends ersichtlich war. Kein freundliches Wort, unangenehme Leute. Und sie haben gleich die Rangerin mitgebracht, um diese Angelegenheit zu klären. Nicht nett. Da gibt es natürlich nicht viel zu diskutieren. Es ist zwar lästig für uns, aber selbstverständlich bauen wir wieder ab und räumen den Platz. Nur der Ton und die doofen Leute versauen uns gerade ein bisschen die Laune. 🙁 Im Ranger Office erfahren wir, dass der Campingplatz total ausgebucht ist. Stimmt nicht wirklich, denn die Hälfte der Parzellen ist frei. Aber so funktioniert das System der Nationalparks hier in den USA. Für eine ganz kleine Gebühr werden Reservierungen lange im Voraus gemacht, tatsächlich erscheinen dann aber viele der Gäste gar nicht. Auch der Platz, der speziell für die AT-Hiker vorgesehen ist, soll angeblich voll sein. Da dürfen laut Park-Ordnung nur 12 Zelte stehen, obwohl Raum für mehr wäre. Wir sind inzwischen richtig verärgert. Die Optionen, die uns die Rangerin anbietet, kommen alle nicht in Frage. Da ist die Rede von Taxi, kostenpflichtigem Shuttle, heute nach Millinocket ins Hotel und morgen wiederkommen. Ein anderer Vorschlag lautet, dass wir heute die letzten 16  Kilometer durch den Park zurücklaufen, auf dem Campingplatz an der Abol Bridge übernachten, morgen dann zum 3. Mal den Weg hierher machen sollen. Geht’s noch ? Die spinnen wohl ! Haben überhaupt keine Lust auf so ein Theater am Ende eines langen Wandertages. Einen Moment lang überlegen wir sogar, die Sache hier zu beenden und den „blöden Berg“ zu vergessen. Wir sind nicht alleine, auch 5 der jungen Leute sind nicht untergekommen, weil sie zu spät waren. Nach langem Hin und Her bekommen wir einen Tagespass für morgen ausgestellt. Ein Ranger lädt uns alle auf die Ladefläche seines Wagens und fährt mit uns eine halbe Stunde durch den Park zurück. Wir werden an einem See mit Picknick-Tisch und Toilette herausgelassen. Allerdings besagt ein deutliches Schild : Camping verboten ! Der Ranger ermahnt uns, dass wir nicht im Gebiet des Baxter State Parks wild zelten dürfen. Er zeigt uns die Richtung, der wir folgen müssen, um nach ca. 3 Kilometern auf den Appalachian Trail zu kommen. Dort können wir uns dann hinstellen, sofern es das Gelände erlaubt. Morgen früh müssen wir die 3 Kilometer durch den Wald wieder zurück bis an die Straße, dort ein Auto anhalten, welches uns bis zum Ranger Office mitnimmt. Am Besten vor 6.00 Uhr früh, denn die Besteigung des Katahdin ist anstrengend und sollte nicht zu spät beginnen. Das ist doch alles lächerlich ! 🙁
Völlig erschöpft, enttäuscht, müde, frustriert, wütend …. Das alles ist deutlich in den Gesichtern der jungen Leute abzulesen. Sie haben eine wahnsinnig beeindruckende Leistung vollbracht, sind 4-5 Monate lang insgesamt 3530 Kilometer gelaufen, und jetzt werden sie hier so kurz vor dem Ziel abgewiesen. Auch wir sind sauer, aber die Kids tun uns richtig leid. Blutige Füße, abgemagert, und nun werden sie einfach wegen irgendwelcher starrer Regeln weggeschickt – das darf nicht sein. Wir sind schon groß, trotzdem ist es ein Schock. 🙁
Was soll’s – Jammern nützt nichts. Wir werden nicht gegen die Regeln verstoßen, denn wir möchten gerne weiterhin in die USA einreisen dürfen. Also heißt es, noch einmal die Zähne zusammenbeißen, die müden Beine in Bewegung setzen und einen Zeltplatz außerhalb des Parks suchen. Gegen 21.00 Uhr ist endlich Feierabend. Todmüde nach 36 Kilometern kriechen wir in unsere Schlafsäcke und fallen sofort in Tiefschlaf.

Unser letzter Tag auf dem Appalachian Trail beginnt bereits um 4.00 Uhr früh. Wir müssen ein letztes Mal unser Zelt abbauen, den Rucksack packen und 3 überflüssige Kilometer bis zurück zur Straße laufen. Dort stehen wir nicht besonders positiv gestimmt zwischen den Moskitos, die schon wieder ordentlich quälen. Erstmal ist nichts los außer Vogelgezwitscher und schwirrenden Stechmücken. Dann ist ein Motorengeräusch zu hören, wir strecken den Daumen raus. Unglaublich – schon das erste Auto hält. Darin sitzen zwei Männer, die eine Tagestour im Baxter State Park unternehmen möchten. Es gibt nur zwei Sitzplätze, aber wir dürfen auf der offenen Ladefläche mitfahren. Sehr cool – obwohl ich auf der unebenen Straße die Stöße durch das Steißbein bis in die Wirbelsäule spüren kann. Am Beginn des Abol Trails ist Endstation, denn dort möchten die Beiden aufsteigen. Blöd für uns, denn unser Weg beginnt erst einige Kilometer weiter. Trotzdem sehr nett, zwei Bananen bekommen wir auch noch geschenkt. Gut für uns, denn wir haben gestern am teuren und unfreundlichen Camp-Store nur sehr sparsam eingekauft. Ein paar Meter laufen wir auf der verlassenen Straße, dann hält schon wieder ein Wagen. Der ist leider total voll, kein Platz für uns und das Gepäck. Aber der junge Mann am Steuer bleibt trotzdem stehen, um sich dafür zu entschuldigen und ein kurzes Schwätzchen mit uns zu halten. Morgens um 6.00 Uhr …. ich fasse es nicht ( bin eher der Typ Morgenmuffel ). 😉 Okay, wir bedanken uns für die Informationen und guten Wünsche, dann laufen wir höchstens 5 Minuten weiter. Das nächste Auto stoppt. Darin sitzt eine Frau, die seit Februar ihre Wohnung aufgegeben hat und in ihrem Kleinwagen wohnt. Isomatte, Bettzeug, Kocher, der gesamte Hausrat wird weggeschoben, umgeräumt und somit knapper Platz geschaffen für uns. Ganz toll ! Wie wir reisen, das ist völlig egal. Hauptsache, wir kommen endlich zum Start am Katahdin Stream Campground. Haben schon Einiges an netten Bekanntschaften erlebt, bevor wir mit unserer Tagesaufgabe beginnen. Das macht gute Laune. 🙂
Um 7.00 Uhr geht es endlich „richtig“ los. Das Wetter ist vielversprechend, diesmal soll es ein schöner Tag auf dem Gipfel werden. Über eine hölzerne Brücke, vorbei an den Wasserfällen und immer stramm bergauf. Wir überholen alle Normal-Wanderer, dafür werden wir „alten Leute“ von den jungen AT-Hikern abgehängt.

Der Aufstieg verläuft zunächst steil, aber stetig, geht dann nach der Hälfte der Strecke mit anspruchsvoller Kletterei über Felsen weiter. Ja, der Mount Katahdin ist der höchste Berg in Maine zum Abschluss.  Wir fühlen uns viel besser als 2012, sind bestimmt fitter, weil noch nicht so erschöpft nach 6 Wochen. Aber trotzdem …. Meine Güte, was ist das anstrengend !

Hinter uns kommt ein einzelner Wanderer immer näher, der kann unser Tempo gut mithalten. Überholen möchte er nicht, dafür spricht er uns irgendwann auf deutsch an. Thomas unterhält sich eine Weile, während ich schwitzend mit den immer schwierigeren Kletterstellen kämpfe. Nach einer Weile kommt einer der Jungs, die heute auf den Gipfel wollen, förmlich angerannt. Es ist Indigo, den wir vor einer Woche in Shaw’s Hiker-Hostel kennengelernt haben. Der Mann hinter uns ist sein Onkel, der vor ca. 20 Jahren in Berlin gelebt hat. Was für ein Zufall – die Welt ist klein. 🙂 Sehr viel Wasser auf dem Trail, es läuft uns über weite Strecken entgegen, die Schuhe sind nass. Ist uns völlig egal, denn ab morgen haben wir einige Tage Zeit zum Trocknen. Auf dem Weg nach oben überholen wir die nette Frau, die uns in der Frühe mitgenommen hat. Ich schenke ihr meinen Oma-Chang-Hut, denn ich hoffe, den brauche ich nicht mehr. Bin nicht böse, wenn wir den Moskitos den Rücken kehren.


Der Abstieg gestaltet sich schwieriger als erwartet. Wir laufen den Abol Trail, der uns für den Rückweg empfohlen wurde. Auch hier geht es im ersten Drittel steil über Geröll in die Tiefe. Anstrengend – aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir in den letzten Tagen zu viel gemacht haben. Die Beine sind schwer, die Füße tun weh. Eigentlich möchten wir nur noch unten ankommen, denn dieser Teil gehört sowieso nicht zum AT. Wir sind fertig. Bergab dauert volle drei Stunden, dann stehen wir ziemlich erledigt am Trailhead. Haben noch weitere fünf Kilometer vor uns bis zum Ranger Office, wo wir am Morgen gestartet sind und unsere Rucksäcke abgestellt sind. Nichts los hier, kein Verkehr, wir latschen müde die Straße entlang. Nach einer halben Strecke kommt endlich ein Auto aus der richtigen Richtung …. und hält. Zwei Männer drin, Vater und Sohn, kein Sitzplatz innen frei. Eine Ladefläche zum Aufsteigen gibt es auch nicht. Kein Problem, der Fahrer klappt den Kofferraum auf, schiebt das ganze Zeug zusammen, damit wir in der offenen Tür sitzen können. Gut festhalten ! Alle verrückt hier. 😉 Das erleben wir öfter beim Trampen, echt komische Situationen, an denen wir noch lange Spaß haben. Mittlerweile ist es schon 16.00 Uhr, deswegen schnappen wir schnell unser Zeug und stehen gleich wieder in umgekehrter Richtung an der Straße. Wir möchten ins 35 Kilometer entfernte Millinocket zum Hiker-Hostel. Dort in der Appalachian Trail Lodge wartet ein Päckchen auf uns mit den CDT-Unterlagen und Ersatzwäsche. Das zweite Auto bleibt für uns stehen. Die fahren nicht raus, sie können uns nur bis zur Park-Grenze mitnehmen, aber immerhin sind wir dort 15 Kilometer weiter und näher an Millinocket. Kaum am Grenz-Schalter ausgestiegen, da hält der nächste Wagen. Haben wir überhaupt schon Anzeichen gemacht, dass wir mitfahren möchten ? Es steht uns anscheinend im Gesicht geschrieben. Meine Güte – das fluppt hier gut mit dem Trampen. Interessante Gespräche gibt es gratis dazu, viele nützliche Informationen von den Einheimischen, und manchmal ist es nur witzig. In diesem Auto sitzt nun ein junger Mann, der mit seiner Oma einen schönen Tag im Baxter State Park verbracht hat. Oma ist um die 70, zwei Kanus sind auf dem Dachgepäckträger montiert. Da geht ein junger Mann am Wochenende mit seiner Oma Kanu fahren auf dem See …. Irgendwie ist das ein schräges Paar, aber wir wundern uns hier über gar nichts mehr. Auf jeden Fall kommen die Beiden aus Millinocket und bringen uns direkt bis vor die Tür der Appalachian Trail Lodge. Auf der Straßenseite gegenüber steht das Auto von Indigos Deutsch-sprechendem Onkel. Der hat gerade zwei AT-Hiker ausgeladen, die im Hostel übernachten wollen. Im Wagen sitzen jetzt noch Indigo und Turtle, die bis nach Bangor möchte. Zwei Plätze sind also gerade frei geworden. Thomas fragt, ob wir mitfahren dürfen. Kein Thema – sofort werden wir herzlich eingeladen und aufgefordert, unser Zeug einzuladen. Vorher müssen wir noch unser Päckchen im Hostel abholen. Für diesen Service stecken wir 10,- Dollar in die Spendendose für abgebrannte Hiker. Wenn Jemand den Appalachian Trail beendet hat und hier ankommt, aber kein Geld mehr hat für die Heimfahrt, dann wird ganz unkompliziert mit dem Geld aus dieser Dose geholfen. Wir finden, das ist ein sehr guter Zweck.


Das Auto ist mehr als voll mit 5 Personen, 5 Rucksäcken, dazu die Stöcker, Schuhe und unser Karton. Eigentlich passt es nicht, aber irgendwie gehen die Türen dann doch noch zu. Der Geruch im Inneren des Wagens ist unbeschreiblich. Da sitzen vier AT-Hiker, die eine Woche ohne Dusche in der Wilderness unterwegs waren. Okay, wir waren einmal im See baden, das ist ja schon etwas besser als nichts. Eine Woche lang die Klamotten immer wieder durchgeschwitzt, die Schuhe stinken. Len bleibt unbeeindruckt – völlig cool. Unterwegs stellt er die Frage, ob wir Lust auf Burger und Bier haben. Klar, alle Hände gehen hoch. Wir haben Hunger ! Und Bier hört sich auch gut an. Wir landen im Nocturnem Draft House, einer Brauerei mit lecker Essen und 20 Bier-Sorten auf der Karte. Können draußen im Wintergarten sitzen, ganz ohne Moskitos. Es ist eine große Runde, denn auch Lens Frau Nancy und die erwachsenen Kinder sind mit von der Partie. Bezahlen dürfen wir nicht, so langsam wird es peinlich. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Dankeschön ! 🙂

Wir haben noch keinen Plan, wie es weitergeht, ob heute noch ein Bus in Richtung Westen fährt. Müssen uns den besten Weg zum CDT überlegen, Flüge buchen und telefonisch die ersten Reservierungen für den Yellowstone National Park regeln. Für ein Hotel ist es eigentlich schon zu spät, wir wollen nicht viel Geld für wenige Stunden Schlaf ausgeben. Len bietet uns ganz unkompliziert an, dass wir bei ihm zu Hause übernachten können. Indigo und Turtle beziehen ihr Quartier im Haupthaus, wir dürfen auf der Couch in einem Nebengebäude übernachten. Toll ! 🙂

Haben wunderbar geschlafen auf der Couch in unserer Scheune. Morgens gibt es eine schnelle Dusche und ein leckeres Frühstück, dazu eine kurze Führung über das Farm-Grundstück. Nancy und Len sind die besten Gastgeber, die man sich denken kann. Wir fühlen uns sehr wohl, dennoch möchten wir ein Stück weiter in Richtung CDT. Turtle und Indigo müssen um 9.00 Uhr am Busbahnhof in Bangor sein. Wir schließen uns dem an und fahren mit. Wieder ist das Auto voll mit vier – diesmal frisch geduschten – Wanderern und deren Rucksäcken. Wieder haben wir ganz tolle Menschen kennengelernt, die wir hoffentlich wiedersehen werden. Auf der Fahrt durch Bangor bekommen wir noch das Wohnhaus von Stephen King gezeigt. Len bringt uns zum Walmart, wo wir bei Kaffee und freiem Internet ein Zimmer ganz in der Nähe buchen, um die nächsten Schritte zu planen. 
Unsere Wäsche wasche ich diesmal gleich zweimal nacheinander. Ein Pullover, ein T-Shirt, zwei Paar Socken und Unterwäsche wandern in die Mülltonne. Auch unsere Schuhe haben sehr gelitten, an beiden Paaren löst sich die Sohle. Die Bundesstaaten New Hampshire und Maine zusammen haben insgesamt 11.555 Fuß An- und Abstieg zu bieten, das entspricht mehr als 3,5 Kilometern hinauf und hinunter in den vergangenen 6 Wochen. Wir haben gut auf uns acht gegeben, deswegen halten sich die Knie-Beschwerden in Grenzen. Mückenstiche und wunde Stellen quälen noch, aber in sauberer und insektenfreier Umgebung werden sie schnell heilen. Alles gut. Wir freuen uns auf den CDT.