Wir segeln und wandern durch die Welt

Azoren bis Grönland – 1840 Seemeilen

Am Nachmittag des 20.06. starten wir bei grauem Himmel und Nieselregen. Gleich hinter der Hafenmole können wir Segel setzen, die Windpilot übernimmt das Steuern. Wir brauchen lange, um aus dem Dunstkreis von São Miguel zu kommen. Unsere erste Nacht an Bord verläuft angenehm ruhig bei 3-4 Windstärken aus Süd-West.
Am nächsten Morgen dreht der Wind über West auf Nord-West. Achterlich wird zu Am-Wind-Kurs, die Bewegungen werden ruppiger. Keiner möchte sich freiwillig unten im Schiff aufhalten, außer zum Schlafen und für’s Allernötigste. Nördlich von uns zieht ein Tief durch, da ist etwas mehr los. Der Seegang wird höher. Thomas hat mit der Seekrankheit zu kämpfen.
Immer mal wieder lassen sich Delfine blicken und begleiten uns eine Weile. Tagsüber ist der Himmel grau. Nachts gibt es nur eine schmale Mondsichel an Himmel. Meistens ist es bedeckt, keine Sterne zu sehen. Wir haben Meeresleuchten. Die Schaumkämme der Wellen brechen glitzernd in der schwarzen See.

Es geht voran. Bei konstanten 6 Windstärken, in den Böen mehr, machen wir gute Fahrt. Die Nächte sind stockfinster, da sind alle Geräusche lauter, und es fühlt sich schneller an. Wir haben das doppelt gereffte Großsegel, die Fock am Kutterstag und ein kleines Stück Genua vorne stehen. Mit dieser Konstellation kann die Walkabout eine ganze Menge aushalten. Nichts mehr von der ursprünglichen Beseglung, mit der wir das Boot im Mai 2018 in Betrieb genommen haben. Die alten Tücher haben keiner Beanspruchung standgehalten, sondern sind uns nach und nach zerrissen. Sowas können wir nicht gebrauchen. Tiefschwarze Wolken voraus sind etwas unheimlich, aber es passiert nicht viel mehr. Unser Hand-Anemometer zeigt 7 Beaufort an. Das haben wir neuerdings griffbereit zum Messen oben liegen. Sonst haben wir die Windstärke immer nur geschätzt, aber im Deckshaus mit geschlossener Tür merkt man lange nicht, wenn es zulegt. Das Leben an Bord ist noch etwas anstrengend. Die einfachsten Dinge im Salon gestalten sich schwierig. Hart am Wind gibt es weiterhin Rock’n Roll. Aber insgesamt können wir nicht meckern. Wir wussten schon vorher, dass diese Passage keine Kaffee-Fahrt wird.
Jeden Abend bekommen wir eine e-mail mit neuer Wetter-Vorhersage, netten Anekdoten und manchmal auch Berichten über wichtige tagesaktuelle Ereignisse. Danke nochmal an dieser Stelle für deine Begleitung, Henning. Macht Spaß. 🙂

Ab dem 5. Tag geht es uns richtig gut. Die See hat sich beruhigt. Wir essen viel, schlafen viel, lesen viel. Diverse Fachliteratur, Kartenmaterial und die einschlägigen Bücher sind griffbereit auf dem Tisch verteilt. Wir machen uns Notizen und sprechen über Plan A, B, C …. Immer mehr Ankerplätze werden auf der elektronischen Seekarte eingegeben. Wir lernen die Funktionen des neuen Radargerätes kennen. Ab wann wir wohl die ersten Eisberge erwarten können ? Und wie sollen wir es während der Nächte mit dem Ausguck machen, wenn einer von uns Beiden schlafen muss ? Nach den Segelanweisungen sollte man 200 Seemeilen Abstand zum Cape Farvel halten, allerdings kann man inzwischen auch schon viel weiter südlich mit Eis rechnen. Ich habe ordentlich Respekt vor dieser Passage, und das ist auch gut so. Der Nord-Atlantik kann zu jeder Jahreszeit die Zähne zeigen, damit ist nicht zu spaßen. Wir sind bestens vorbereitet und sehr gespannt, was uns erwartet.  Es liegen noch etwa 1500 Seemeilen vor uns, aber mit dem Kopf sind wir bereits in Grönland. Leider ist die Saison in diesem Revier nur sehr kurz. Es gibt inzwischen Tage, an denen wir gar keine Sonne sehen. Die Temperaturen sind merklich gefallen. Während der Nachtwache muss man jetzt schon eine Schicht mehr anziehen. Grau ist die vorherrschende Farbe. Weiß noch nicht, ob mir das gefällt. Thomas möchte gerne einmal in diesem unwirtlichen Klima überwintern. Ich mag eher Sonne und Wärme. Wir werden sehen, wo wir bleiben, noch sind alle Wege offen. Vorerst sind wir neugierig auf das neue Land – die größte Insel der Welt – und auf die Menschen, die dort leben.

Eine Woche unterwegs, etwa ein Drittel der gesamten Strecke liegt bereits hinter uns. Wir kommen erfreulich schnell vorwärts. Der Preis dafür ist die Gemütlichkeit. Bis auf den allerersten Tag, der noch etwas ruhiger begann, haben wir immer viel Wind. Öfter als sonst gibt es nächtliche Aktionen an Bord. Um Mitternacht beim Wachwechsel kommt das erste Reff ins Großsegel. Gegen 6.30 Uhr wecke ich den Käpt’n, damit er ein zweites Reff ins Groß bindet. Als nächstes kommt der kleine Fetzen Genau weg. Wir werden immer noch nicht langsamer. Der Wind pfeift und heult im Rigg. Aktuell wieder 7 Beaufort aus West, schlechte Sicht und hoher Seegang dazu. Wie lange geht das jetzt schon so ? Mindestens 48 Stunden, in denen wir hoch am Wind segeln und ordentlich durchgeschüttelt werden. Die Walkabout steckt regelmäßig Schläge ein, wenn sie mit dem Bug hart in die Wellen eintaucht. Mir wird schlecht, während ich unten im Salon sitze und lese. Also Buch weg, Augen zu, eine Stunde schlafen, danach geht es wieder besser.

Ja, und dann ist es plötzlich vorbei. Nicht mit dem Gebolze, sondern mit dem Vorwärtskommen. Glasklarer Nordwind mit 5 – 6 Beaufort, erst einmal angesagt für die nächsten 24 Stunden. Da können wir nicht viel ausrichten. Wir überlegen uns eine Strategie, wie wir möglichst wenig der erkämpften Höhe abgeben. Kleine Beseglung, damit das Boot langsamer wird. Wir kreuzen in langen Schlägen gegen den Wind. Ein paar Stunden segeln wir im Schneckentempo nach Osten, wenden dann auf den anderen Bug und holpern nach Westen. Auf dem Plotter ergibt das eine schöne Zick-Zack-Linie. Der Seegang läuft kreuz und quer durcheinander, was die Sache nicht angenehmer macht. In den ersten 12 Stunden ändert sich unsere Entfernung zum Ziel überhaupt nicht. Gut und nicht gut, wie man es nimmt. Bei mehr Wind von vorne hätten wir beigedreht und wären so etliche Seemeilen zurück nach Süden getrieben. Wenigstens haben wir nicht viel Raum verschenkt, sondern sind einfach auf der Stelle geblieben. Trotzdem schade, wir hatten so einen guten Lauf in der ersten Woche.
Das Barometer zeigt steigenden Luftdruck. Am Nachmittag holt Thomas die neuesten GribFiles. Leider müssen wir feststellen, dass diese Phase noch länger andauern wird. Frühestens morgen Abend soll der Wind drehen. Das Kompetenzzentrum Hamburg bestätigt diese Vorhersage in der abendlichen E-Mail. Unsere Begeisterung hält sich in Grenzen. 🙁
Okay, man muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Den Wind können wir nicht ändern, nur das Beste aus der Situation machen. Wenn man das erst einmal im Kopf klar gekriegt hat und nicht mehr auf Distanzen und Etmale schaut, dann ist das „auf der Stelle segeln“ gar nicht so schlimm. Die Walkabout läuft schön ruhig. Auch wenn es mal wieder länger dauert, wir freuen uns darüber, dass wir eine Ruhepause haben und die Wachen ohne Stress genießen können.

Unsere Kleiderordnung muss geändert werden, denn es wird von Tag zu Tag kühler. Höchste Zeit, die lange Unterwäsche aus dem Schrank zu holen, außerdem Mütze und extra-dicke Wollsocken. Meine Güte – was bin ich doch für ein Weichei ! 😉 Thomas toppt noch mehr auf. Vor seiner Nachtwache kleidet er sich mit Kapuzen-Pullover, Fleece-Jacke und Hose der Segel-Montur ein, Mütze gehört sowieso schon länger dazu. Wir befinden uns auf 48° Nord. Die Temperaturen gehen in den Keller. Wie schon gesagt : Ich weiß noch nicht, ob mir das gefällt. 😉 Erstmal Grönland angucken. Danach wissen wir noch gar nicht, wie es weitergehen soll. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wir haben so viele Ideen im Kopf, dass wir manchmal über uns selber grinsen müssen. Da sind wir gerade auf dem rauen Nord-Atlantik unterwegs nach Grönland und reden darüber, wie schön es in Patagonien war. 10 Jahre her. Dort könnte man doch auch noch einmal etwas mehr Zeit verbringen …. Aber wie kommt man da am besten hin, wenn man gerade auf dem Weg in die Arktis ist ? Vor genau einem Jahr waren wir noch in den USA, nun sind wir bald in Grönland. Und das nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem eigenen Segelboot. Die Welt ist klein. 😉

Genau 30 Stunden hält der stramme Nord an, dann lässt der Wind lässt nach. Er kann sich wohl noch nicht entscheiden, aus welcher Richtung er blasen will. Der Luftdruck steigt kontinuierlich weiter. Das Meer ist glatter geworden, die Wellen sind nicht mehr so hoch und kommen jetzt gleichmäßiger. Die Farbe des Wassers hat sich geändert. Da ist richtig viel Leben drin : Beim Blick über die Reling können wir Fische, Portugiesische Galeeren und andere bunte Quallen erkennen. Während der gesamten Passage haben wir Begleitung von zahlreichen Seevögel, die sich weit hinaus auf’s Meer wagen. „Arctic Tern“ – die Küstenseeschwalbe ist der Zugvogel mit der längsten Wegstrecke. Brüten in der Nordpolar-Region und Überwinterung am Südpol, mehr als 500 Kilometer am Tag und bis zu 100.000 Kilometer pro Jahr sind möglich. Unvorstellbar.
Vier runde Schwanzflossen ragen aus dem Wasser, darunter dicke dunkle Körper. Das könnten Grindwale sein, aber ganz sicher sind wir nicht.
Wir wundern uns über eine grüne Markierung mitten im Ozean. Die kann hier eigentlich nicht hingehören, denn wir segeln abseits jeder Route. Wahrscheinlich ist das eine Schwimm-Boje, die sich irgendwo losgerissen und auf die weite Reise gemacht hat.

Und dann plötzlich Flaute …. absoluter Stillstand. Wir nutzen die Gunst der Stunde, um das Obst und Gemüse zu kontrollieren, zu waschen und in der Sonne zu trocknen. Bisher ist die Bilanz gut, nur ganz wenig ist schlecht geworden und geht über Bord. Außerdem bedeutet Ruhe auf See immer „Bade-Tag“. So warm wird es in nächster Zeit draußen nicht mehr sein. Auf einmal ruft Thomas „Da ist ein Wal !“ Tatsächlich schwimmt ein Buckelwal nur etwa 50 Meter vom Boot entfernt und schaut mir beim Duschen zu. Blöd, dass ich gerade nackt an Deck stehe, mich mit einem Eimer Salzwasser übergossen habe und Seife in den Augen habe.
Am Abend gibt es neue Wetterdaten. Das wird wohl erstmal noch nichts mit dem richtigen Wind. 🙁 Uns erreicht eine lustige Nachricht von Henning : Er gratuliert uns dazu, dass wir den Kern des Hochdruck-Gebietes genau getroffen haben. 😉
Die Segel schlagen. Neu ist eine hohe Dünung, die unter uns hindurchläuft. Ein Gruß des Tiefdruckgebietes weiter nördlich. Auf Gegenwind folgen 10 Stunden totale Flaute. Nachts um 3.00 Uhr ist der Wind endlich zurück, er startet mit angenehmen 3-4 Beaufort aus Süd-West. So ist es schön, da können wir gut was mit anfangen. Wir setzen Vollzeug und machen lautlose 4,5 Knoten Fahrt. Walkabout läuft endlich wieder in der Spur mit Kurs 350°. Herrliches Segeln ! 🙂

Wir erfahren, dass unser Nicht-Vorwärtskommen auch etwas Gutes hatte. Nördlich von uns ist ein Starkwind-Feld durchgezogen. Wir streifen es jetzt nur noch am äußersten Rande, weil wir 2 Tage lang praktisch auf der Stelle geblieben sind. Während der Nacht rumpelt es allerdings wieder mit 6-7 Beaufort. Also wenn das die Ausläufer des Tiefs sind, dann bin ich froh, dass wir nicht die volle Breitseite abgekriegt haben. Um 2.00 Uhr früh kommt das erste Reff ins Großsegel, die Genau wird verkleinert. Morgens um 8.00 Uhr wird das zweite Reff ins Groß gebunden. Es geht schon wieder los. Rumpelige Fahrt. Gute Geschwindigkeit, aber wenig gemütlich. Eine große Welle erwischt mich, während ich gerade draußen auf den Bänken stehe und über dem Deckshaus mit dem Anemometer die Windstärke messe. Bin nass bis auf die Knochen und muss mich nach dieser unfreiwilligen Dusche komplett umziehen. 32 Knoten, das sind wieder ( oder immer noch ) gute 7 Windstärken. Man gewöhnt sich dran. Schlechte Sicht. Wir schalten das Radargerät an und stellen einen Alarm ein. Wenn etwas in unseren Nahbereich von einer Seemeile kommt, dann sollte das Ding piepen. Wir müssen auf unsere elektronischen Geräte vertrauen, ansonsten sieht man gar nichts in dieser Nebel-Suppe. Das werden wir wohl in Zukunft öfter haben in den hohen Breiten. Seit dem Verkauf der kleinen Walkabout Ende 2017 sind wir ohne Radar gefahren, aber hier und jetzt geht es nicht mehr ohne.

Die alles dominierende Farbe ist nach wie vor grau. Nur die Wellenkämme tragen weiße Schaumkronen. Die ganze Welt um uns herum ist feucht und kalt. Selbst Thomas fragt nach einer zusätzlichen Decke. Da bekommt die Freiwache in der Kuschel-Ecke eine ganz andere Bedeutung. Man freut sich auf ein paar Stunden in der Seekoje, nicht des Schlafes wegen, sondern zum Aufwärmen. Inzwischen haben wir die 1000-Seemeilen-Marke geknackt, das könnte ungefähr Halbzeit sein. Abends um 23.00 Uhr geht die Sonne unter. Demnächst wird es die ganze Nacht hindurch hell sein

Ein weiteres Hoch liegt im Weg und beschert uns Beinahe-Windstille. Anfangs können wir noch so gerade eben segeln, wir schleichen im Schneckentempo mit knapp 2 Knoten Fahrt die Stunde nach Norden. Irgendwann geht auch das nicht mehr, der Motor muss mithelfen. Eine ganze Nacht lang sitzen wir abwechselnd am Steuerrad und fahren stur die rote Linie vom Kartenplotter hinauf. Langweilig, einschläfernd – nur laute Musik von Joe Cocker und Bryan Adams hält mich wach. Morgens um 8.00 Uhr ist der Wind wieder da. Wie angeknipst und mit einer erfreulichen Frische von 4-5 Beaufort. Kommt jetzt aus Ost – warum auch immer ? Das war nirgendwo zu sehen, aber egal, es läuft wieder. Ringsum dichter Nebel, ab und zu Nieselregen. Wie soll man denn so Eisberge oder kleinere Growler erkennen ? Wir müssen uns auf unsere elektronischen Augen, Plotter und Radar, verlassen. Das Thermometer im Deckshaus zeigt 10° Grad Celsius.

Um 22.00 Uhr plötzliche Starkwind-Attacke. Wie aus dem Nichts faucht der Wind und legt das Boot auf die Seite. Ich rufe den Käpt’n aus der Koje. Das Großsegel kommt ganz weg, von der Genua bleibt nur ein kleines Stück stehen. Gute Entscheidung, denn auch mit dieser Mini-Besegelung laufen wir noch 5 Knoten. Der Seegang wird sofort höher. Sintflutartiger Regen prasselt auf’s Dach, und der wird sich jetzt ein paar Stunden halten. Wie gut, dass wir ein geschlossenes Steuerhaus haben. Trotzdem ist alles nass von den Aktionen draußen, vom Hereinregnen bei geöffneter Tür und vom Kondenswasser. Es wird wohl eine Weile dauern, bis wir unser Zeug wieder trocken bekommen. Sonne haben wir seit einer Woche nicht mehr gesehen, also braucht es dafür wohl einen geschützten Ankerplatz, wo wir den Ofen anheizen können.

Nachts wird der Wind schwächer. Thomas setzt um 3.00 Uhr in der Frühe das Großsegel. Eine Stunde später dümpeln wir mit 2 Knoten auf schlechtem Kurs dahin. Immer noch ( oder schon wieder ) heftiger Regen und dichter Nebel. Beim Autofahren würde ich jetzt an den Straßenrand fahren und anhalten. Man sieht nichts. Ich bin froh, dass wir ein neues Radargerät haben.
Es vergeht ein weiterer Tag mit sehr wenig Wind. Mühsames Vorwärtskommen. Geduld …. Irgendwann kommt der Wind ganz bestimmt wieder. Das ist so sicher, wie dass die Seekrankheit nach ein paar Tagen vorbei ist. Warum müssen eigentlich 90 % der Segel-Manöver in der Nacht stattfinden ? Stimmt wahrscheinlich so nicht, aber mir kommt es tatsächlich vor, als ob Segel-Setzen, Reff einbinden, ausreffen oder auf den anderen Bug wenden meistens während der besten Schlafenszeit erforderlich sind.

Auch die nächste Nacht verläuft nicht ohne Störungen. Meine Wache übernehme ich um 4.00 Uhr früh bei Schleichfahrt mit Vollzeug und 2,5 Knoten Fahrt, Kurs West. Nach einer halben Stunde wird mir das Ganze zu unruhig, die Genua kommt weg. Abfallen. Ich muss Thomas schon wieder wecken. Der ist schnell zur Stelle und bindet ein Reff ins Großsegel. Die Walkabout prescht voraus und macht einige Hopser. Es läuft immer noch nicht rund. Weiter abfallen. Die See baut sich mehr und mehr auf. Schon waschen dicke Brecher über das Vorschiff. Das zweite Reff kommt ins Groß. Und noch mehr abfallen. Geschwindigkeit 6 Knoten, unser Bug zeigt jetzt stramm nach Norden. Der Windmesser zeigt 30 Knoten, das sind 7 Beaufort. Schlimm daran ist eigentlich nur, dass es so schnell geht, innerhalb von 90 Minuten von „fast gar nichts“ bis zu „jetzt ist es genug“. Der Wind in dieser unwirtlichen Gegend ist unberechenbar. Er macht, was er will und hält sich nicht an die Vorhersagen. Anstrengendes Revier – so viel haben wir sonst nicht zu tun.

Am Freitag bekommen wir via Henning einen Bericht des Dänischen meteorologischen Instituts bezüglich der aktuellen Lage. Man kann jetzt schon mit Eisbergen, Growlern und Bergy Bits rechnen, allerdings treiben die sich eher längs der Küste herum. Ab dem 62. Breitengrad soll es dicker kommen, das ist auf der Höhe von Paamiut. Auch erreicht uns eine Eiskarte von Mark, die anzeigt, dass die Häfen von Paamiut und Nuuk noch nicht komplett eisfrei sind. Wir machen eine erste Meldung per e-mail an Aasiaat Radio, das ist die zentrale Seefunkstelle in Grönland. Schiffsdaten, Position, Crew, Route, voraussichtliches Ankunftsdatum und die aktuelle Wetter-Situation möchten die wissen. Damit sind wir jetzt bei der Küstenwache im System und unter ständiger Kontrolle.
Das Wetter bleibt weiterhin dynamisch. Starkwind, Flaute, Gegenwind in moderater Stärke, wütender Wind mit Böen in Sturmstärke und wieder Flaute. Immer wieder sind wir von pottendichtem Nebel umhüllt. Zum Ende unserer Passage muss die Maschine mithelfen. Motor-Segeln im Ami-Stil, so fahren wir hinein in die Labrador See. Der West-Grönland-Strom hilft ordentlich mit, wir machen gute Geschwindigkeit bei niedriger Drehzahl. Totale Windstille, der Ozean ist glatt wie mit Blei übergossen. Das hätten wir in dieser Ecke überhaupt nicht erwartet. Eigentlich hatten wir eher die Vorstellung, dass uns in der Labrador See ständig ein kräftiger Wind um die Ohren pfeift. Immer noch kein Eis in Sicht, das soll uns recht sein. Einzige Unterhaltung sind die zahlreichen Möwen, die ständig haarscharf um unseren Bug herumfliegen und sich dann hinter dem Heck niederlassen. Bei genauer Betrachtung könnte man meinen, dass die richtig frech gucken. Tolles Spiel. 😉
Nachts zum Wachwechsel dann ganz großes Kino : Grindwale und Tümmler zusammen dicht neben unserem Boot. Sie schwimmen total schnell, die großen Delfine springen zwischendurch hoch aus dem Wasser. Es sieht alles sehr zielgerichtet aus. Ob die gemeinschaftlich jagen ? 

Bitterkalt ist es. Unsere Atemwolken sind zu sehen. Die Brille beschlägt, wenn man sie aufsetzt. Ich trage mindestens 3 Schichten Kleidung, dazu natürlich Mütze, Schal, Handschuhe. Unten im Schiff wohlgemerkt, nicht draußen. Gestern habe ich 16 Teile ausgezogen, bevor ich mich hingelegt habe. Thomas geht mit Faserpelz in die Koje. Inzwischen brauchen wir 3 Decken zum Schlafen. Im Salon scheint es kälter zu sein als im Deckshaus. Die Walkabout ist ein Kellerschiff, und die Wassertemperatur ist inzwischen eisig. Trinken direkt aus dem Kran geht nicht mehr, Zähneputzen ist auch unangenehm, besser etwas auf dem Herd anwärmen. Kalte Getränke sowie Obst schmecken nicht. Literweise geht der Tee weg, das tut richtig gut.

Seit 8 Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen, seit 5 Tagen kein einziges AIS-Signal auf dem Plotter. Die vorletzte Nacht vor unserem Landfall dann gleich 2 Schiffe auf einmal. Beides Kreuzfahrer, die eng entlang der Küste fahren. Ungefähr 50 Seemeilen Distanz zu uns, denn wir halten lieber etwas Abstand zum Eis. Wir müssen uns erst einmal vorsichtig herantasten und den Umgang damit lernen. Mit den Kreuzfahrt-Gästen möchte ich auf gar keinen Fall tauschen. Unser Leben an Bord ist zwar nicht ganz so luxuriös, aber dafür völlig selbstbestimmt. Jeden Tag auf’s Neue können wir unsere Pläne und unsere Reiseroute nach Belieben ändern. Keine nervigen Leute, nur wir Zwei. Und das Essen auf der Walkabout ist auch sehr gut. 🙂

Der Samstag beginnt vielversprechend. Kein Nebel, klare Sicht, schwache Sonnenstrahlen zaubern die Illusion von Wärme. Vormittags um 10.00 Uhr ist es soweit : Thomas sichtet unseren ersten Eisberg. Ein riesiges Teil, ziemlich eckig, sieht aus wie ein Haus, ein Tafelberg. Leuchtend weiß und majestätisch zieht er in der Ferne an uns vorbei. Was für ein grandioser Anblick ! 🙂 Es werden natürlich noch etliche mehr und größer und näher kommen, aber im Moment sind wir gerade ganz aufgeregt. Kurze Zeit später werde ich schon wieder herausgerufen. Steuerbord tummelt sich eine Gruppe von Grindwalen, etwa ein Dutzend Tiere. Thomas hält darauf zu, da wir sowieso unter Motor fahren. So können wir das Spektakel ganz aus der Nähe beobachten. Die Grindwale tauchen ins Wasser ein und wieder auf, immer begleitet vom Ausblasen. Auch auf der anderen Seite sind 4-5 Stück zu sehen. Ein wahnsinnig schönes Schauspiel – dieser Tag fängt sehr gut an ! 🙂
Um 15.30 Uhr zeigt das Radargerät ein sich langsam bewegendes Objekt in nur 1,5 Seemeilen Entfernung an. Auf der elektronischen Karte ist nichts zu sehen, auch draußen mit dem Fernglas nicht. Also handelt es sich vermutlich gar nicht um einen Eisberg, sondern um ein kleines Fischerboot ohne AIS-Signal. Aber wir sind alarmiert, hier ist Aufpassen lebenswichtig. 18.00 Uhr Eisberg an backbord. Entfernung 2,5 Seemeilen laut unserer Radar-Anzeige. Er ist klar und deutlich zu erkennen, obwohl die Sicht sich seit Mittag verschlechtert hat. Dieser weiße Koloss muss riesig sein. Wenige Augenblicke haben wir einen weiteren Eisberg an Steuerbord voraus. Auf dem Bildschirm erscheint er noch nicht, zu weit weg. Was für ein Kawensmann ! Das ist ja völlig verrückt hier. Wird bestimmt nicht langweilig. Ein bisschen graut es mir vor der kommenden Nacht, in der wir uns immer weiter zum 62. Breitengrad bewegen ( im Moment befinden wir uns noch auf dem 60.). Je weiter nördlich wir kommen, umso mehr müssen wir mit Hindernissen in jeder Form rechnen. Damit haben wir keine Erfahrung, das Navigieren im Eis ist neu für uns. Etwas unheimlich ist das.

In Anbetracht der hartnäckigen Flauten-Situation haben wir den Motor länger laufen gehabt als uns lieb ist. In der Nacht auf Sonntag stellen wir fest, dass die Nadel der Füllstands-Anzeige vom Tagestank nicht mehr steigt. Die Pumpe, die den Diesel vom Haupttank nach oben befördert, arbeitet ganz normal. Finde den Fehler …. Lange Geschichte. Die Auflösung des Rätsels : Wir haben schlicht und einfach keinen Sprit mehr. Tatsächlich ist der Haupttank leer. Beide haben wir unabhängig voneinander und auf verschiedenen Wegen gerechnet und waren der Meinung, dass es noch für mindestens 100 Seemeilen reichen müsste. Nächstes Rätsel : Wo ist der Diesel geblieben ? Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Tank auf La Palma gar nicht bis zum Anschlag voll gemacht worden, vielleicht war Luft in der Leitung. Sehr doof, weil wir immer noch keinen Hauch verspüren, der uns weiterbringen könnte. Zu allem Übel hat der schmutzige Bodensatz an Diesel aus dem Haupttank den Filter zum Tagestank verstopft. Auch nach Einfüllen des Reservekanisters wird nichts mehr hochgepumpt. Der Filter sitzt zu und muss gewechselt werden. Von Mitternacht bis um 3.00 Uhr in der Frühe dauert die Behebung des Schlamassels, dann läuft die Maschine endlich wieder.
Wir befinden uns ungefähr auf der Höhe von Kap Desolation. Neuer Plan, neues Ziel, weit unten im Süden, nur etwa 30 Seemeilen von unserem Standort entfernt. Wir werden Arsuk anlaufen. Ein Dorf mit 70 Einwohnern, wo es eine Tanksäule geben soll, an der per Kreditkarte bezahlt werden kann. Höchst erstaunlich. So ganz überzeugt bin ich nicht, ob das funktionieren wird. Aber einen Versuch ist es wert, ansonsten würden wir noch ein paar Tage in der Flaute festhängen.

Ich bekomme fast einen Herzinfarkt, als ich um 4.00 Uhr zur Frühschicht antrete. Das Radargerät zeigt links und rechts und hinter uns riesige Eisberge in weniger als 2 Seemeilen Entfernung. Die Walkabout ist mittendrin, wir sind umzingelt von Eisbergen. Und das ist erst der Anfang, von da aus geht es Schlag auf Schlag. Immer mehr flackernde grün–gelbe Flecken tauchen auf unserem Bildschirm auf. Ein Blick aus dem Fenster der Pantry heraus lässt mich glauben, dass ich noch träume. Rötlicher Schein am Horizont, darüber schwarze Zacken, ein paar Wolken verschleiern das Bild. Wie eine Kulisse aus dem „Herrn der Ringe“. Unbeschreibliche Stimmung. Wahnsinn. Land in Sicht ! Unser erster Sonnenaufgang in Grönland. Das Wetter könnte nicht besser sein dafür, klarer Himmel, immer noch Windstille und spiegelglatte See.
Von achtern kommt die „Norwegian Star“ schnell näher. Auch auf diesem großen Kreuzfahrt-Schiff werden morgens um 5.00 Uhr schon etliche Gäste wach sein, um dieses einmalige Schauspiel zu erleben. Vor uns wird die Silhouette von Grönland immer deutlicher. Die größte Insel der Erde, Neuland für uns. Wir sehen eine dunkle Bergkette mit bizarren Formen, Spitzen, Felsnasen, eckige Grate. Die Hänge sind zum Teil noch schneebedeckt – vielleicht bleibt es ganze Jahr über so. Was für ein phantastisches Panorama ! Gutes Motiv für eine schöne Kitsch-Postkarte. Alles total unwirklich, aber wir sind tatsächlich da und mittendrin.


Gegen Mittag versucht Thomas sein Angelglück. Er holt nur einen einzigen Fisch aus dem Wasser, einen Seeskorpion. Der ist so hässlich, dass wir ihn nicht essen wollen. Dann lieber vegetarisch.

Das Thermometer zeigt 8° im Salon. Es wird Zeit, dass wir ankommen, damit wir den Ofen anheizen können und das Raumklima wieder besser wird
Arsuk heißt der kleine Ort, an dem wir Sonntag gegen Mittag erstmals grönländischen Boden betreten werden. Wir sind gespannt auf den Kontakt mit der Bevölkerung. Die Sprache der Inuit ist uns sowas von fremd, dass wir auf englisch-sprachige Einheimische hoffen.

4 Kommentare zu “Azoren bis Grönland – 1840 Seemeilen

  1. Rainer Huenerfauth

    Sauber gemacht ihr Lieben. Glueckwunsch zu Groenland. Eine Anmerkung: wenn man es schafft den Schornstein- Ausgang vom Reflex aus dem Abwind vom Grosssegel zu bekommen brennt der auch beim Segeln, bei Motorfahrt auf jeden Fall. Wir benutzen ein 1m langes Rohr, allerdings mit dem „Sombrero“ aus Ushuaia drauf. Das Teil haben wir uns da machen lassen und es ist extrem wirksam bei Fallwinden. Wir koennen gerne mal wieder telefonieren, habe noch paar Ideen zum heizen. Liebe Gruesse aus Down Under von den meerbaeren.

    1. 871385 Autor des Beitrags

      Hallöchen,

      danke, ich werde es weitergeben an den Käpt’n und Bord-Handwerker.
      Thomas liest unseren Blog nicht, deswegen kommen die Antworten immer von mir.

      All leckerst un best !

  2. Marion Rösch

    Hallo ihr 2,
    das war gute Unterhaltung während unseres Rentnerfrühstückes.
    Spannend geschrieben wie immer. Die Fotos machen Gänsehaut.
    Kommt gut an. Wir sind gespannt
    Alles Gute für euch und kommt heile an.
    Liebe Grüße von Marion und Friedel

    1. 871385 Autor des Beitrags

      Hallo liebe Cousine !

      Das ist ja nett, von dir bzw. euch Rentnern zu hören. Leider wenig Kontakt in letzter Zeit, Internet nur auf Sparflamme.

      Herzliche Grüße aus Grönland