Wir segeln und wandern durch die Welt

Das Rennen läuft : Point Barrow bis Nome

Die ganze Nacht hindurch sind wir wunderbar Schmetterling gesegelt. Konstant 5-6 Knoten bei relativ sanfter Schaukelei. Einen Tag später als geplant umsegeln wir Point Barrow bei milden Bedingungen. Damit liegt die Beaufort See mit ihrem ruppigen Seegang in unserem Kielwasser. Südwestlich des Kaps beginnt die Tschuktschen See, wegen ihrer geringen Wassertiefe ein nicht zu unterschätzendes Seegebiet. Es gibt für die nächsten 300 Seemeilen keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Erst Point Hope ist eine sichere Ankerbucht, um Schutz zu suchen und auf ein gutes Wetterfenster für die Durchquerung der Bering Straße zu warten. Wir haben die nördlichsten Breitengrade dieser Reise hinter uns, ab jetzt geht es nur noch nach Süden. Für den Kurswechsel fahren wir eine Q-Wende, Großsegel und ausgebaumte Genua müssen die Seiten tauschen. Auf der anderen Seite des Kaps erwartet uns Gegenströmung, die auch den ganzen weiteren Weg anhalten wird. Erwartungsgemäß nimmt die Geschwindigkeit ab, ist aber immer noch im Rahmen unserer Rechnerei. Grau und neblig draußen. Es schneit. Die Temperatur im Deckshaus beträgt 4°.

Das Rennen läuft. Wir hoffen darauf, dass wir am Mittwoch in Nome ankommen werden. Je früher, umso besser. Ab Mitternacht geht der Sturm los, da soll ein ganz dickes Ding anrollen. Bis jetzt ist der Durchschnitt besser als erwartet. Wir haben unser Soll erfüllt, liegen ganz gut in der Zeit.
Ein kleiner Zwischenfall warnt uns, dass wir es nicht übertreiben sollten. Um 21.30 Uhr schreibe ich noch ins Logbuch : „Alles gut. Walkabout läuft gleichmäßig mit 5,5 Knoten“. Eine halbe Stunde später wird der Wind ganz giftig. Die Logge zeigt mehrmals über 7 Knoten an. Wir müssen reffen. Ich wecke Thomas. Noch bevor der in seinen Klamotten ist gibt es einen lauten Knall. Was war das denn ? Unser Spi-Baum ist herunter gekommen und liegt quer auf dem Vorschiff. Der Mast-Beschlag hängt noch dran, der ist glatt abgerissen. Selber schuld, zu viel geschrubbt, man sollte es nicht übertreiben. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert, nichts kaputt geschlagen, auch die Genua ist heile geblieben. Eine Stunde Aufräumarbeiten an Deck. Die Genua wird halb eingerollt, dann kommen zwei Reffs ins Groß. Windsteueranlage muss neu eingestellt werden, dann kann der Käpt’n sich nochmal hinlegen. Die Lage ist wieder stabil, wenn auch nicht angenehm.

Um 6.00 Uhr in der Frühe findet die nächste Aktion statt. Viel zu viel Wind für meinen Geschmack. 8 Beaufort werden angezeigt, die Stärke der Böen möchte ich lieber gar nicht wissen. Die Genua muss kleiner gerefft werden. Da stimmt irgendetwas nicht. Ich sehe Thomas vorne mit Leinen hantieren, im Dunkeln kann ich aber nichts Genaues erkennen. Das Reserve-Fall hat sich gelöst und um die Rollreff-Anlage gewickelt. Dies hätte auch zu weiteren Problemen führen können, aber der Käpt’n hat es rechtzeitig gesehen und klariert.
Wir nähern uns dem Icy Cape. In der Seekarte sind mehrere Untiefen eingezeichnet. Ob die wohl immer noch an derselben Stelle liegen oder gewandert sind ? Wir lesen in den Segelanweisungen nach. Dort befinden sich Unterwasser-Klippen, die sogenannten „Blossom Shoals“. Man soll bei der Umrundung des Kaps mindestens 20 Faden Wassertiefe unter dem Kiel haben. Wie viel ist denn nun nochmal ein Faden ? Ein Faden entspricht ungefähr 6 Fuß, das sind in etwa 1,80 Meter. Wir grübeln und rechnen und beschließen dann, das Kap in großzügigem Abstand zu umfahren. Dafür ist eine Kurs-Änderung nach Westen nötig, die das Groß so nicht mitmacht. Das Großsegel soll ganz herunter. Erneut turnt Thomas auf Deck herum, immer noch bei Dunkelheit und eisigem Schneeregen. Respekt ! Bin froh, dass ich das nicht machen muss.

Wir haben die Uhren um 2 Stunden zurückgestellt. Ab jetzt befinden wir uns in der Zeitzone „Alaska Standard Time“. Aber ist ja eigentlich auch egal, das ist erst wieder wichtig, wenn wir in der Zivilisation ankommen. Am Nachmittag immer noch Wind, Wind, viel Wind. Hoher Seegang hat sich aufgebaut. Besser nicht aus dem Fenster sehen, denn hohe Brecher mit weißen Schaumkronen jagen uns. Alles grau, dicke Wolken am Himmel. Dazu leiden wir unter einer elenden Schaukelei. Die Genua fahren wir inzwischen doppelt gerefft, denn immer noch fauchen heftige Böen im Rigg. Hoffentlich hält das alles durch. Ruppige Fahrt durch die Nacht. Beide träumen wir inzwischen von der Nord-West-Passage, und das sind meistens Katastrophen-Szenarien. Die Reise der Seabelle endete in Tuktoyaktuk. Sonia und Calin müssen aufgrund ihres Motorschadens tatsächlich in der Arktis überwintern. Die Beiden kommen dort erst wieder weg, wenn die Strecke frei ist von Eis, das könnte Ende Juli 2024 werden. Alles nicht besonders entspannt hier. Es wird höchste Zeit, dass wir unser Ziel erreichen. Unser Wunsch wäre Ankunft am Mittwoch bei Tageslicht.

Grauer Tag, der mit Regen beginnt und mit Schnee endet. Gleichmäßige 5 Windstärken aus Ost passen gut, dazu fahren wir nur die Genua und genießen eine relativ ruhige Nacht. Erst gegen Mittag des nächsten Tages wird es wieder rumpelig. Wir müssen unser vorletztes Kap umrunden, aber Cape Lisburne macht es uns nicht leicht. Es dauert lange, die Kurve zu kriegen. Der Kurs lässt sich wunderbar einstellen, auch das Segel steht gut. Aber trotz beständigem Wind werden wir immer langsamer. Aus der Bering See setzt die Strömung nordwärts, dazu gesellt sich eine weitere Gegenströmung aus dem Kotzebue Sound. War klar, das kommt nicht unerwartet, weil man es überall nachlesen kann. Die Geschwindigkeit fällt auf unter 4 Knoten, das können wir uns gerade nicht leisten wegen des bevorstehenden Sturms. Hoffen wir, dass der Wind zunimmt wie vorhergesagt. Bin froh, als wir es endlich ums Kap herum geschafft haben. Aber zu früh gefreut : Kreuzseen vom Feinsten erwarten uns im nächsten Abschnitt der Tschuktschen See. Das Wellenbild sieht zum Fürchten aus. Immer wieder knallen heftige Brecher auf die Seite und hauen die Walkabout aus dem Kurs. Festhalten und weitermachen ist die Devise. Sehr ungemütlich, aber da müssen wir nun durch. Die Tschuktschen See ist nicht unser Freund. Es liegen noch etwa 180 Seemeilen bis zur Ansteuerung der Bering Straße vor uns, ungefähr noch 300 Seemeilen bis nach Nome. Ab jetzt geht es nur noch nach Süden.

Gegen Mitternacht ist eine Reihe von Lichtern zu sehen. Der Küstenverlauf von Point Hope ist klar und deutlich zu erkennen. Land in Sicht ! Point Hope, übersetzt „Punkt der Hoffnung“ macht seinem Namen alle Ehre. Dieses Kap markiert genau den halben Weg von Barrow aus, 300 Seemeilen bis hierhin ohne Ankerplatz. In die andere Richtung sind es bis nach Nome weitere 300 Seemeilen ohne Schutz. Die meisten Segler machen am Point Hope eine Verschnaufpause. Hier kann man noch einmal ausschlafen und in Ruhe auf das richtige Wetterfenster für die letzte Etappe warten.
Wie haben keine Zeit, der bevorstehende Sturm treibt uns weiter. Die Walkabout prescht vorbei, es läuft gerade gut. Schnell und genau auf Kurs, Helferlein steuert perfekt. Was will man mehr ?

Montag früh ist es relativ ruhig, aber die kabbelige See bleibt uns trotzdem weiterhin erhalten. Bald haben wir die Tschuktschen See hinter uns. Wir sind froh, dieses ungastliche Gewässer verlassen zu können. Es hat uns ganz schön gebeutelt. 
Der Weg vom Atlantik in den Pazifik führt durch die Bering Straße. Das ist eine Schlüsselstelle, die man nur bei guten Bedingungen durchfahren sollte. Wind und Strömung müssen passen. Wir hoffen, dass wir es richtig treffen werden. Alles sieht bis jetzt aus, als wenn unser Plan funktionieren würde. Mitten in der Bering Straße verläuft die Grenze zwischen Russland und den USA. Sie ist zwar unsichtbar,  wird aber von beiden Weltmächten scharf bewacht. Man sollte es tunlichst vermeiden, beim Kreuzen zu weit auf die falsche Seite zu geraten.

Gegen Mitternacht überqueren wir zum zweiten Mal den Polarkreis auf 66°33′ Nord und 167°23′ West. Wir haben es geschafft. Die Arktis liegt hinter uns. Nicht dass es jetzt plötzlich wärmer wird, aber rein symbolisch ist das schon ein großer Schritt zurück in die Zivilisation. 🙂
Eine Stunde später bietet sich uns ein ganz besonderes Schauspiel. Thomas ruft mich aus der Koje, denn es gibt Polarlicht zu beobachten. Der Himmel ist übersät mit hellen Lichterscheinungen, die sich schnell bewegen und ständig ihre Form ändern. Toll ! 🙂 Ein letzter Gruß aus der Arktis.
Nachts auffrischender Wind aus Nord-Nord-West. Es heult im Rigg, die Leinen knarren, die Mastrutscher klappern. Wir schieben ordentlich Schräglage. Im Unterbewusstsein habe ich das wohl gespürt, denn ich habe geträumt, dass wir mit viel zu viel Wind in die Bering Straße eingefahren sind. Hilfe ! Es wird höchste Zeit, dass wir uns endlich entspannen können. Zwischen 4.00 und 5.00 Uhr habe ich bereits zwei Mal die Genua verkleinert. Dann muss das Großsegel runter. Immer noch macht die Walkabout über 6 Knoten Fahrt. Es regnet.
Ein Kreuzfahrer nervt während der Frühwache, indem er  anscheinend planlos und langsam hinter uns fährt und nach zwei Stunden endlich überholt. Ein Schlepper kommt entgegen und funkt uns an, um den Kurs abzusprechen. Zwei Schiffe in einer Nacht, das hatten wir ja seit Grönland nicht mehr. Richtig was los hier. Willkommen zurück in der bewohnten Welt. 🙂

Morgens früh um 7.00 Uhr haben wir die Ansteuerung für die Bering Straße erreicht. Der Wind bläst nur noch mit 5 Beaufort aus Nord-West. Das könnte schlechter sein. Trotzdem werden wir auch am vorletzten Tag ordentlich durchgeschaukelt. Was für ein konfuser Seegang !
Hier möchte ich nicht bei viel Wind sein. An der engsten Stelle der Bering Straße sind es nur 8 Seemeilen bis zur russischen Seite hinüber. Wir passieren die Diomede Inseln. Anscheinend ist das auch Ziel unseres Kreuzfahrers. Der stoppt ganz nahe dran, damit die gerade ausgeschlafenen Gäste diesen extravaganten Anblick beim Frühstück genießen können. Die östlich gelegene Little Diomede gehört politisch gesehen zu Alaska, also USA, während die westliche Big Diomede jenseits der Grenze in Russland liegt. Beide Inseln sind rund vier Kilometer voneinander entfernt. Zusätzlich zur amerikanisch-russischen Staatsgrenze verläuft zwischen den beiden Inseln auch die Internationale Datumsgrenze.
Wenig später müssen wir beim Cape Prince of Wales aufpassen, dass wir nicht zu nahe an die Küste gelangen. Weit reichen die Muschelbänke in die Bering Straße hinein. Hohe Wellen bilden sich bereits vor dem Flach, also besser den Kurs weit entfernt davon legen. Zur anderen Seite liegt ein weiteres Hindernis auf dem Weg. Wir passieren den Fairway Rock mit 5 Seemeilen Abstand. Danach ist eine Änderung der Richtung fällig, wir möchten um die Ecke nach Nome. Die Genua wird auf die andere Seite geholt, Wind kommt immer achterlicher, unser Kurs wird schlechter. Irgendwer hat die Bremse angezogen, wir schaffen kaum noch 4 Knoten.

King Island ragt in knapp 10 Seemeilen Entfernung aus dem Wasser. Toller Anblick. Ganz klar und deutlich sind die Umrisse in Form eines Dreiecks zu erkennen. So hoch und so markant hatte ich mir das Inselchen nicht vorgestellt. King Island besteht primär aus einem gut 200 m hohen und 2,5 km langen Felsen, ganz ähnlich wie Helgoland. Das Interessante an King Island ist die Geschichte dazu : Es existiert ein Vertrag, der das Betreten grundsätzlich verbietet. Also wohnen nur Ur-Einwohner dort. Mich würde mal interessieren, was das für ein Völkchen ist, welches da so abgeschieden im Nirgendwo zwischen den USA und Russland lebt. Nur mit einer speziellen Genehmigung der „Native Corporation“ dürfen Besucher hier an Land gehen. Ankern ist allerdings im Notfall erlaubt. Dunstwolken zaubern eine ganz besondere Atmosphäre, dann versinkt King Island hinter uns im Nebel. 
Am Abend vor unserer Ankunft ist der Wassertank leer. Wir haben noch zwei Kanister zu je 6 Litern. Passt. Die letzte Zwiebel und der letzte Knoblauch werden verarbeitet. Die sind tatsächlich noch von unserer Markt-Bestellung in Ponta Delgada auf den Azoren. Unfassbar, wie lange das Zeug gehalten hat ! Könnte an den Temperaturen liegen. 😉
Und noch einmal Polarlicht !
Sternenklarer Himmel in der Nacht – das haben wir in der Arktis äußerst selten erlebt.

Mittwoch herrscht weniger Wind als angesagt. Auch der Seegang hat sich beruhigt. Nur mit der Genua an steuerbord machen wir gute Fahrt. In knapp 3 Seemeilen Entfernung liegt der Küstenstreifen Alaskas, anscheinend weitgehend unbewohnt. Wir fahren an Sledge Island vorbei. Nichts und Niemand zu sehen. Ist nicht so spannend hier, die Bevölkerungsdichte ist verschwindend gering.

Um 12.00 Uhr hören wir am Funkgerät, dass sich die Hayat beim Hafenmeister abmeldet. Nur ein einziges Mal haben unsere Boote nebeneinander gelegen, das war ganz zu Anfang in Pond Inlet. Seitdem schrabbeln wir immer ganz knapp aneinander vorbei, hören und sehen uns bei der Ein- oder Ausfahrt.
Immer noch läuft harte Strömung gegenan. Unser kleiner 36 PS Motor hat zu kämpfen. Zum Glück ist der Seegang nicht mehr ganz so schlimm.
Die letzten Seemeilen bis in den Hafen von Nome sind flach, sowas von flach. Unser Bug zeigt direkt zu einer Sandbank, auf der ein Dutzend Möwen sitzen. Halt – da kann etwas nicht stimmen. Rechts die Sandbank, Schwenk nach links, das Echolot zeigt nur 2 Meter Wassertiefe. Thomas weist mich auf ein Richtsignal hin. Ja, das hilft mir weiter. Konzentration. Immer schön in der Spur bleiben. Uns wurde erzählt, dass die Fahrrinne ausgebaggert wird. Man sollte sich allerdings sehr genau in der Mitte halten.
Komische Vehikel ziehen langsam ihre Kreise in Strandnähe. Es dauert einen Moment, bis bei uns der Groschen fällt. Das sind Gold-Bagger, die sogenannten „Dradgers“. Wir sind gleich da, in der Stadt der Goldgräber.

Ein freundliches Willkommen vom Hafenmeister, schon als Thomas uns über Funk anmeldet. Am 21. September um 15.00 Uhr machen wir die Leinen an der Kaimauer fest.
In Nome ist die Nord-West-Passage offiziell geschafft. 🙂

Hier endet auch unser dickes Buch. Bin nicht böse, wenn ich das jetzt zur Seite legen darf. 😉

3100 Seemeilen von Upernavik bis Nome, insgesamt 6630 Seemeilen seit dem Start von La Palma am 27.05.