Ergiebiger Regen während der Nacht, Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt. Wir sind überhaupt nicht motiviert. Um 11.00 Uhr müssen wir aus unserem Zimmer, praktischerweise macht der Chinese nebenan um 11.00 Uhr auf. Wir sind die ersten Gäste und haben das Buffet für uns alleine. Noch einmal essen wir uns richtig satt mit „All you can eat“. Das ist unser Frühstück, Mittag- und Abendessen zugleich. Danach lassen wir uns von einem „Cab“ zur kunterbunten Hippie-Brücke fahren. Zurück auf dem Trail fühlt sich eigentlich ganz gut an, wenn man erst einmal unterwegs ist. Auch das Wetter scheint aufzuklaren. Schon nach 10 Minuten blockiert Wasser unseren Weg. Ein Zulauf des Suwannee River ist durch die starken Regenfälle angeschwollen und zu breit zum Überqueren. Strom-aufwärts suche ich eine Möglichkeit, trockenen Fußes hinüber zu gelangen. Thomas telefoniert gerade noch, ich laufe ein Stück weiter hoch. Da liegt ein dicker Baumstamm quer von einem Ufer zum anderen, darauf könnte man balancieren. Aus der Nähe betrachtet ist das keine gute Idee. Zu hoch, zu schräg, zu rutschig. Ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus, krempele die Hose hoch und wate auf die andere Seite. Das Wasser ist eiskalt.
Eine halbe Stunde später verläuft der Florida-Trail entlang einer wenig befahrenen Straße. Dort werden wir von einem Hund laut angekläfft. Er verlässt das Grundstück, welches die schöne Hausnummer 11111 hat ( wie der Briefkasten verrät ) und kommt uns entgegen. Sobald wir mit dem Hundchen sprechen, wird er ganz zutraulich, schnuppert an unseren Händen und wedelt freundlich mit dem Schwanz. Von nun an haben wir einen Begleiter, der Hund hat uns anscheinend adoptiert. Wir denken, der wird uns ein Stück lang begleiten und dann wieder umkehren und nach Hause gehen. Aber nein, er bleibt immer in der Nähe, als ob wir zusammen gehören. Unser neuer Freund scheint den Trail zu kennen und hat Spaß an der Bewegung. Er rennt voraus, stöbert im Gebüsch, jagt Eichhörnchen und Vögel auf die Bäume. Zwischendurch springt er kurz in den Fluss, um zu schwimmen. Dann wieder läuft er kreuz und quer durch den Wald, bleibt in der Ferne stehen, schaut sich suchend um, als ob er auf uns wartet. Ein lustiger Geselle, wir haben viel Freude damit, aber so geht das nicht weiter. Nach zwei Stunden rufen wir den Hund und schauen uns das Halsband etwas genauer an. Auf einer Metallplatte eingraviert stehen da ein Name und zwei Telefonnummern. Thomas ruft mehrmals an, hat aber nur den Anrufbeantworter dran und hinterlässt eine Nachricht. Wir laufen weiter, unser treuer Begleiter rennt vor und neben und hinter uns. Manchmal glauben wir, dass er sich endlich auf den Rückweg gemacht hat, aber an der nächsten Ecke werden wir bereits wieder erwartet. Das Spiel dauert so lange, bis wir das River Camp erreichen. Der Hund sitzt vor dem Wohnwagen des Camp Hosts, einer Frau, die hier den Job eines Platzwarts hat. Sie erzählt uns, dass sie den Hund schon kennt, weil der öfter von zu Hause abhaut und bei ihr landet. Ganze vier Stunden lang hatten wir vierbeinige Begleitung, an dieser Stelle ist Schluss damit. Die Platzwartin ruft den Besitzer an, damit er zum Abholen kommt. Der braucht immerhin eine ganze Stunde Autofahrt für den Hinweg und eine weitere Stunde für den Rückweg. Wir marschieren etwa 5 Kilometer weiter und schlagen unser Zelt oberhalb des Flusses auf. Ein Wagen braust auf der nicht weit entfernten Forststraße vorbei und eine Viertelstunde später wieder in der Gegenrichtung zurück. Wir hören noch einmal das vertraute Bellen „unseres“ Hundes, einen letzten Gruß im Vorbeifahren. 🙂
Es bleibt kalt. Wenn man während der Nacht einmal aus dem Schlafsack muss, dann dauert es ewig, bis man wieder warm wird. Start mit doppelter Lage Kleidung. Schon nach kurzer Zeit stehen wir vor einer Absperrung. Der Trail ist geschlossen, es gibt eine ausgeschilderte Umleitung auf Straßen. Unsere neue Route führt über ein Jäger-Camp, aber da ist nichts los. Die Bude für die Anmeldungen ist geschlossen, anscheinend wird erst am Wochenende gejagt. Kurze Zeit später folgen wir erneut den Windungen des Suwannee River. Ganz ruhig fließt das Wasser, obwohl der Hauptstrom durch Zuflüsse immer breiter wird. Heute mündet der Alapaha River hinein, den wir zuvor auf einer Brücke überquert haben. Am gegenüberliegenden Ufer leuchten weiße Sandbänke. Es gibt sogar kleine Inseln mit Baumbewuchs mitten im Fluss, die bei Hochwasserstand eigentlich überflutet sein müssten. Alligatoren gibt es im Suwannee River auch, allerdings haben wir schon seit Wochen keine mehr gesehen. Diese Reptilien ziehen sich bei Kälte zurück und überwintern im Uferschlamm eingegraben oder im tiefen Wasser. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, die Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert und so Energie eingespart. In der Frühstückspause stellen wir fest, dass unsere Salatgurke angefroren ist. Ab 11.00 Uhr wird die Temperatur etwas angenehmer. Die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Frühlings-Stimmung. 🙂 Unser Weg bleibt immer in der Nähe des Flusses. Mal wandern wir auf einem Teppich aus raschelndem Laub, das fühlt sich wunderbar weich an. Dann wieder pflastern dunkelbraune Kapseln unseren Pfad, die sind richtig hart unter den Fußsohlen zu spüren. Tolle Kletterbäume stehen hier, mit mächtigem Stamm und dicken, moosbewachsenen Ästen. Wir laufen auf dem „Big Oak Trail“. Später Nachmittag, die Sonne geht schon bald unter. Wir sehen erst eins, dann zwei …. insgesamt sechs Gürteltiere ganz aus der Nähe. Erstaunlich, die stören sich gar nicht an unserer Anwesenheit. Diese Gürteltiere sind ganz emsig dabei, den Boden nach Nahrung zu durchwühlen. Sonst hört und sieht man sie nur im Dunkeln rascheln, bisher ist noch nie ein Foto gelungen. Entweder sind die taub, denn es dröhnt der Lärm der nahen Interstate bis hierhin. Oder es ist die Panik vor den ungewöhnlich kalten Temperaturen, der Drang, sich ein Polster anfuttern zu müssen. So ein fress-gesteuertes Verhalten haben wir schon bei Mäusen, Ratten und Streifenhörnchen erlebt, die sich kurz vor dem drohenden Winter immer weiter vorwagen, um Vorräte zu bunkern. Heute ist das Gürteltier unser „Tier des Tages“.
Reger Verkehr auf der Autobahn die ganze Nacht hindurch, die Geräuschkulisse bleibt kontinuierlich laut. Meine Füße werden überhaupt nicht warm, ich stecke sie in die Ärmel meiner Daunenjacke. Thomas gibt mir dazu noch seine Daunenjacke zum Anziehen. Habe schon zwei Schichten plus Handschuhe und Kopf-Bedeckung im Schlafsack an, aber das reicht nicht. Ich friere immer noch. 1 Grad am frühen Morgen. Ein schmaler Pfad führt ein kleines Stück am Suwannee River entlang, bis wir auf eine Sandpiste stoßen. Hier liegt der Stroud Cementary, eine Heimstätte der Familien Stroud und Sullivan. Das ist ein uralter verfallener Friedhof mitten im Nirgendwo. Auf den ersten Blick sehr unscheinbar, aber wir möchten ihn uns trotzdem genauer anschauen. In der ersten Reihe stehen kleine Grabsteine. Beim genaueren Hinsehen bekommen wir Gänsehaut : Baby-Gräber, eins neben dem anderen. Die Familie Sullivan hat hier drei Säuglinge beerdigt. Ein Baby ist bereits am Tag der Geburt gestorben, eins hat nur einen Monat gelebt, ein weiteres Sullivan-Kind wurde 10 Monate. Eine andere Familie hat gleich zwei Namen ihrer Kinder auf einem Grabstein verewigt. Was für ein schlimmes Schicksal ! Den Daten nach ist das Ganze 130 – 140 Jahre her. Trotzdem sind wir schwer erschüttert. 🙁
Ein letztes Mal führt unser Pfad in den Wald hinein. Oberhalb des Suwannee River steht ein Picknick-Tisch, an dem wir eine entspannte Frühstückspause genießen. Die Autobahn ist nicht mehr zu hören – endlich. Ein Roter Kardinal fliegt vor uns durch die Büsche. Zwei Rehe springen über den Trail. Spuren von Bären und Pfoten-Abdrücke eines Opossums auf dem Sand. Danach beginnt ein ewig langer „roadwalk“. Insgesamt liegen 50 Meilen ohne Unterbrechung auf Straßen vor uns, das sind unglaubliche 80 Kilometer. Der Fairness halber muss erwähnt werden, dass die Organisatoren des Florida-Trails genau an dieser Stelle eine Art Bus-Service anbieten. Es gibt Trail Angel, deren Nummer man anrufen oder texten kann. Man wird dann mit dem Auto abgeholt und fährt etwa zwei Stunden für diese Strecke. Für uns mit unserem ostfriesischen Dickkopf, die wir jeden Schritt laufen wollen, bedeutet es etwa drei Tage strammer Fußmarsch. Das Gebiet wird überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Auf riesigen Feldern wird das Futter für’s Vieh angebaut. Dutzende von Getreidesilos liegen nebeneinander, im Hintergrund stehen gigantische Stallungen für Hunderte von Kühen. Das ist Milch-Wirtschaft im XXL-Format. Wir haben uns einen kurzen Tag vorgenommen, denn auf der langen Straßen-Etappe ist es schwierig, an Wasser zu kommen. Außerdem soll es beinahe unmöglich sein, unterwegs einen Platz zum Zelten zu finden. Wir haben viel Gutes über die Midway Baptist Church gehört und machen einen Abstecher von der Hauptstraße dorthin. Eine Leucht-Reklame vor dem Grundstück verkündet : „FT-Hikers Welcome“. Na, das hört sich doch an, als wäre es für uns bestimmt. 🙂 Pastor Matt ist ein moderner Pastor, hat Frau und vier Kinder zwischen 8 und 12 Jahren. Jung, gastfreundlich, einfach nur nett. Wir dürfen im Garten zelten und die überdachten Tische nutzen oder im Gemeindesaal schlafen. Wegen der andauernd frostigen Temperaturen wählen wir den Innenraum, haben ein Badezimmer und dürfen sogar in der Küche kochen. Sind heute nur 22 Kilometer gelaufen, aber diese günstige Gelegenheit kann man sich einfach nicht entgehen lassen. Ganz nebenbei haben wir supernette Menschen kennengelernt, nämlich Pastor Matt und seine vier Kids ( die Frau hat sich bescheiden im Hintergrund gehalten ). Wir haben auf unseren Long-Trails in den USA bereits sehr viel Gutes von den diversen Kirchen erfahren. Das ist gelebte Nächstenliebe und auf jeden Fall eine schöne Ansichtskarte wert, wenn wir mit dem Florida-Trail fertig sind. Und natürlich, wie es auf der Leucht-Reklame erscheint : „Like us on Facebook“. 🙂 Dort gibt es Fotos und Videos zu sehen, auf denen Pastor Matt seine Predigt hält. In kariertem Hemd und Jeans – total cool.
Wir haben wunderbar geschlafen auf dem Boden im Gemeindesaal. Draußen ist die Wiese weiß, schon wieder Frost während der Nacht. Nach 1,5 Stunden entlang der Straße machen wir einen kleinen Abstecher zum Waffel-Haus. Frühstück so ganz nach meinem Geschmack. 🙂 Weiter geht es an einer viel befahrenen Interstate mit viel Müll und Tier-Kadavern. Drei Oppossums, mehrere Adler, zwei Skelette von großen Tieren, vermutlich Rehe. Aber es wird noch schlimmer. Wir sehen eine schwarz-weiße Hauskatze überfahren im Straßengraben. Nur eine Stunde weiter liegt ein braun-weiß-gefleckter Hund mit Halsband tot auf dem Randstreifen. Traurig, traurig. 🙁 Zur linken Seite gibt es weite Felder mit Baumwolle. Sehr interessant, denn Baumwolle kennt man sonst nur zu Textilien verarbeitet. Hier also im Roh-Zustand zu bewundern, und die Blüten sehen sehr hübsch aus.
Ein Wanderfalke sitzt auf einem Zaunpfahl und fliegt davon, als wir uns nähern. In den Klauen hält er eine kleine Maus, die er wahrscheinlich in Ruhe ohne Zuschauer verzehren möchte. Wir kommen an einer Orangen-Plantage vorbei. Die meisten Früchte liegen schon am Boden. Für uns leider unerreichbar, denn das Feld ist eingezäunt. Es folgt ausgedehntes Weideland mit unzähligen Schafen. Viele kleine und ganz kleine Lämmer springen um die Muttertiere herum. Es scheinen oft Zwillinge dabei zu sein. Besonders auffällig und niedlich, dass ein Geschwisterpaar oft aus einem schwarzen und einem weißen Lämmchen besteht. Und weiter geht es auf der Straße, wir beißen uns durch. Um 18.30 Uhr wird es dunkel, um 19.00 Uhr erreichen wir die Sirmans Baptist Church. Unsere App auf dem Handy sagt, dass man hier willkommen ist. Schon auf dem Weg hierher haben wir versucht, uns anzukündigen, aber nirgends war Empfang. Die Erlaubnis zum Zelten bekommen wir vom Diakon Jonny, der uns anruft, während wir gerade auf dem Spielplatz hinter der Kirche unser Essen zubereiten. Unsere 2-Minuten-China-Nudeln werden aufgewertet durch Konserven aus der „Blessing Box“. Das ist ein Schrank mit gespendeten Lebensmitteln, aus dem wir eine Dose grüner Bohnen und eine Dose Kichererbsen entnehmen. Sehr nett ! 🙂 Das Zelt stellen wir unter einer dicken Eiche auf und sind zufrieden mit dem Tagewerk. Wir sind 38 Kilometer gelaufen, eigentlich mehr, als wir uns vorgenommen hatten. Der letzte mögliche Zeltplatz am Friedhof ( 5 Kilometer zurück ) gefiel uns nicht. Unsere Fußsohlen prickeln.
Morgens früh wird in der Kirche bereits gesungen, als wir aufstehen. Den Beginn des Gottesdienstes haben wir verpasst. Ungefähr 20 Autos stehen auf dem Parkplatz, wir haben kein einziges vorfahren gehört. Tiefschlaf bis um Viertel nach acht, Füße und Beine haben sich wieder gut erholt. Ein paar erfrorene Tabak-Pflanzen stehen in den Vorgärten. Die braunen Blätter hängen schlapp und welk herunter. Es geht stundenlang langweilig weiter. Dann endlich eine Abwechslung, eine „vending mashine“ auf dem eintönigen Weg die Straße entlang. Ein Getränkeautomat, gefüllt mit unseren favorisierten Getränken, nur 1,- US$ pro Dose. Wir sind gut vorbereitet und freuen uns darüber, dass wir passendes Geld haben. Das lädt doch sehr zur Pause am Zaun ein. Eine Mülltonne steht auch daneben, da hat Jemand richtig gut mitgedacht. 🙂
Eine runde Plastiktonne in einem Garten wurde umgekippt und mit einer Decke bestückt zur Hundehütte umfunktioniert. Es schaut nur eine Schnauze heraus, der Hund hat ein gemütliches Zuhause. Ein anderer Artgenosse hat leider nicht so viel Glück. Schon von Weitem wundern wir uns über eine Schar schwarzer Greifvögel auf der Straße. Die sehen aus wie Aasfresser. Damit behalten wir leider recht. Rabengeier. Wir entdecken einen toten Hund im Graben mit ehemals schönem schwarzen Fell. Er hat noch den Rest eines bunten Stricks um den Hals, also hat er sich wahrscheinlich losgerissen und ist abgehauen. Lange kann der hier noch nicht liegen, aber die Rabenvögel waren schon dran. 🙁 Mittagspause an der Mt. Gilead Baptist Church. Dort ist eine Veranda mit Bänken und überdachten Picknick-Tischen offen für Alle. Ein großer Karton mit Müsli-Riegeln steht auf dem Tisch. Schokolade mit Erdnussbutter und extra viel Protein, genau was Hiker brauchen. Es gibt Wasser und Steckdosen zum Laden. Die Kirchen sind auf dieser trostlosen Strecke wirklich eine große Hilfe, denn auf deren Gelände gibt es die einzigen Pausen- und Zeltplätze während der 80-Kilometer auf Straßen. Wir fühlen uns immer willkommen und nehmen die Annehmlichkeiten gerne an. 🙂 Zum Ende des Tages haben wir es geschafft : 80 Kilometer Florida-Trail auf der Straße einfach so „weggelaufen“. Kurz vor 18.00 Uhr verlassen wir die Fahrspur und biegen in einen schmalen Pfad ein. Endlich wandern wir wieder auf einem Teppich aus Blättern statt auf Asphalt. Sofort fühlen wir uns mittendrin in der Natur, wilde Vegetation ringsum. Eine halbe Stunde später finden wir unseren Lagerplatz für die Nacht direkt am Aucilla River. Wir hören keine Autos mehr. Grillen zirpen, der Fluss rauscht. 🙂
Leichter Regen während der Nacht. Mit Poncho über dem Zelt bleiben wir innen trocken. Morgens ist es grau und nass im Wald. Voraus in einer Kurve hat sich ein halbes Dutzend dieser schwarzen Aas-Fresser versammelt und pickt an irgendetwas herum. Rabengeier-Frühstück. Wie wollen gar nicht sehen, was da liegt, sondern biegen vorher ab. Der Suwannee River ist Vergangenheit, die neue Sektion führt am Ufer des Aucilla River entlang. Landschaftlich fast identisch, man könnte meinen, dass wir diesen Weg vor ein paar Tagen schon einmal gelaufen sind. Der Aucilla River ist vielleicht ein kleines bisschen schmaler, das Wasser im Fluss eine Nuance dunkler. Selbst die Stromschnellen sehen ganz ähnlich aus.
Der einzige gravierende Unterschied : Am Aucilla River liegt leider viel Müll. Überall wo Straßen-Zugang ist oder Rastplätze mit dem Auto erreichbar sind, genau da haben die Leute „vergessen“, ihren Abfall wieder mitzunehmen. Sehr schade. 🙁 Eine Palmetto-Palme sieht aus, als hätte ein Bär sie auseinander genommen, um an das Mark zu gelangen. Spuren von Bären sind reichlich vorhanden. Neben uns knackt und knistert es im Gebüsch. Das hört sich nach einem größeren Tier an, das vor uns Reißaus nimmt. Wahrscheinlich aber eher ein Wildschwein, denn gerade dieses Gebiet ist reichlich durchgepflügt. Nach unserer Mittagspause am Ufer wird es spannend. Hier beginnen die „Aucilla Sinks“, ein Gebiet, in dem der Aucilla unterirdisch verläuft. Mal fließt der Fluss auf unserer rechten Seite, dann verschwindet er unsichtbar in Höhlen, um auf der linken Seite wieder zu erscheinen. Tiefe, unergründliche Löcher, die wie Seen wirken. Und immer wieder dieser Wechsel, der Aucilla mal auf der einen Seite im Flussbett und dann wieder unsichtbar unter der Erde im Kalkstein.
Auf hölzernen Brücken kann man die Senken überqueren. Aktuell herrscht ein niedriger Wasserstand, unsere Füße bleiben trocken. Nach wenigen Kilometern ist diese geologisch interessante Besonderheit schon wieder zu Ende. Auf jeden Fall sind die „Aucilla Sinks“ faszinierend und einzigartig. Um 14.30 Uhr führt unser schöner Pfad auf eine asphaltierte Straße. Wir können es kaum glauben – schon wieder fertig mit tollem Trail. 🙁 Zwei Stunden auf einer wenig befahrenen Straße, dann geht es weiter auf einem Highway, knapp 10 Kilometer auf der US98. Angenehme Unterbrechung ist die Tankstelle „JR’s Store“. Dort landen wir eine Stunde vor Feierabend, bekommen den letzten Hamburger, die letzten Kartoffeln und dazu geräucherte Mettwurst. Ungewöhnliche Zusammenstellung, aber mit Ketchup drauf schmeckt es. Das Beste an dieser Nummer : Das Betreiber-Ehepaar ist unheimlich nett und lässt uns auf seinem Grundstück zelten. Die nächsten zwei Nächte sollen die Temperaturen wieder bis unter den Gefrierpunkt fallen.
Wir stehen nur etwa 20 Meter von der Straße entfernt zwischen Gas und Diesel-Tanks. Die ganze Nacht hindurch braust unablässig der Verkehr, überwiegend LKWs. Einige fahren zum Tanken beinahe neben uns vor. Motorengeräusch, Piepen, Tuten, Klappern und Scheppern der Lastwagen bilden das Hintergrund-Geräusch für unseren leichten Schlaf. Eine Eismaschine in unmittelbarer Nähe macht Lärm, der Generator läuft. Die Tankstelle ist die ganze Nacht über hell erleuchtet. Taschenlampen brauchen wir nicht, fette Strahler scheinen uns direkt ins Zelt. Um 4.00 Uhr früh fängt dazu noch ein Hahn an zu krähen. Erstaunlich laut und mit einer Ausdauer, die mich nicht mehr einschlafen lässt. Wir stehen ungewöhnlich früh auf. Die Tankstelle hat ab 5.00 Uhr geöffnet, und es ist bereits erstaunlich viel los. Wir mischen uns unter’s Volk und quatschen mit den Einheimischen. Das sind Jäger, Angler und alte Männer, die einfach nur täglich kommen, um den neuesten Klatsch und Tratsch zu hören. Verrückte Nacht und lustiger Tagesbeginn. Auf der vor uns liegenden Strecke wird es kein Trinkwasser geben, vermutlich erst morgen wieder. Das bedeutet, wir müssen von hier 4 Liter mitnehmen und schleppen, eventuell sogar auf warmes Abendessen verzichten. Dann starten wir auf der US98 in einen langen Tag. Der nächste mögliche Zeltplatz ist 32 Kilometer entfernt. Wir laufen uns warm. Nach einer Stunde strammen Marsches können wir die hässliche Straße verlassen und tauchen ein in dichten Dschungel. Was für ein krasser Gegensatz ! Plötzlich sind wir wieder mittendrin im Busch. Nur eine schmale Spur im Wald, der man kaum folgen kann. Ein Schlammloch nach dem anderen, kaum Markierungen an den Bäumen, einfach nur Wildnis pur. Wir schaffen es, die ersten Pfützen am Rande zu umgehen. Allerdings wird das Gelände immer sumpfiger, und das Buschwerk drumherum wird so dicht, dass es kein Durchkommen mehr gibt. Wir stapfen einfach durch, die Schuhe sind nass. Das Wasser ist eiskalt. Gegen 10.00 Uhr erreichen wir die Grenze zur St. Marks Wilderness. Dort weist ein Schild darauf hin, dass es sich auf dem nächsten Abschnitt um einen „primitiven Trail“ handelt. Keine Fahrspur, es gibt keine Autos und keinen Müll. Sehr gut ! 🙂 Der Morast wird noch tiefer, weite Strecken stehen unter Wasser. Manchmal haben wir Mühe, den Weg zu finden. Über den schlimmsten Sumpf sind Holzbohlen angelegt, auf denen wir balancieren. Dieser Boardwalk macht uns richtig Spaß. Er wird offensichtlich auch von den Bären als Toilette benutzt.
Wir laufen auf einer Böschung, links von uns ein Kanal und rechts ein Kanal. Das Wasser kann man nicht trinken. Wir nähern uns immer weiter dem Meer, und in diesen Kanälen fließt Süßwasser mit Salzwasser vermischt. Ganz vorsichtig stapfen wir über zwei alte Eisenbahn-Brücken, die ziemlich morsch wirken. Thomas sieht einen Panther voraus auf dem Trail. Bis ich mal begriffen habe, worum es geht und wohin ich schauen muss, da ist die Raubkatze natürlich schon weg. Die Sonne hat endlich genug Kraft, um uns aufzuwärmen. Das wird eine entspannte Mittagspause. Ein komischer Käfer nähert sich und will sich über unseren Proviantbeutel hermachen. Hässliches Insekt mit langen Fühlern, braun, 4-5 Zentimeter groß. Inzwischen haben wir recherchiert : Anasa Tristis, eine Kürbis-Wanze. Igitt !
Unser Weg verläuft weiter auf einer Art Deich, zu beiden Seiten ablaufendes Wasser. Wir befinden uns eindeutig im Tidengebiet. Es riecht nach Schlick und Meer, fast wie zu Hause. Zur einen Seite kann man den Blick frei in die Ferne schweifen lassen. Prärie, so weit das Auge reicht. Wattenmeer mit Palmen. Eine schnelle Bewegung, die wir gerade so aus den Augenwinkeln wahrnehmen können und ein lautes „Platsch“ neben uns. Was war denn das ? Sind etwa die Alligatoren wieder aufgetaut ? Ja, sind sie. Nur ein kleines Stück weiter liegt ein ausgewachsenes Tier auf einem Sandstreifen und sonnt sich. Völlig regungslos, obwohl wir uns nicht besonders leise verhalten. Thomas versucht, den Alligator aus der Reserve zu locken, indem er Steine ins Wasser wirft. Es dauert ewig, bis das Reptil sich bewegt und langsam abtaucht. Der nächste Alligator liegt mit geöffnetem Maul am Ufer und lässt sich seine Zähne von der Sonne bescheinen. Auch dieser rührt sich nicht, anscheinend sind die Tiere noch ziemlich apathisch wegen der kalten Temperaturen.
Wir machen eine weitere gelungene Pause auf einer Halbinsel. Da stehen zwei Bänke unter Palmen, zu drei Seiten hin Wasser. Hier kann man Vögel beobachten, die es auch an der Nordsee-Küste gibt : Silbermöwen, Kiebitze, Säbelschnäbler, Strandläufer. Große Fische, ca. 30 Zentimeter lang, springen ungefähr einen Meter hoch und drehen ihre Pirouetten. Leider liegt diese Pause zeitlich und von den Meilen her nicht so ganz in der Mitte. 7 Kilometer waren es bis zu diesem besonders schönen Platz, dafür haben wir gleich noch 12 Kilometer auf der letzten Etappe vor uns. Das Feuchtgebiet wird immer ausgedehnter. Auf einer großen Wasserfläche sitzen Hunderte von Enten im Schilf. Zwischendrin auf einem kleinen Sandhügel liegt ein Alligator. Es gibt sie wieder. Die Enten scheint es nicht zu stören.
Am späten Nachmittag verläuft unser Trail auf einer breiten Fahrspur im Wald. Schnurgeradeaus, so dass man weit in die Ferne blicken kann. Wir wandern in Richtung Westen, die Sonne steht genau voraus. Einige Rehe springen über den Weg, im Gegenlicht ist jede Einzelheit gut zu erkennen. Kurz vor Sonnenuntergang sehen wir noch einen Schwarzbären von einer Seite zur anderen kreuzen. Feierabend an der Port Leon Campsite. Diese ist von Wildschweinen ordentlich durchgeackert, kaum eine gerade Stelle zu finden. Aber wir hören keine Autos, nur Vogelstimmen. Toller Tag ! Schon wieder viel Natur und Florida-Trail in schön. 🙂 Geht doch.
Auf der Südseite des St. Marks River hört der Florida-Trail auf. Durchqueren des Flusses auf eigene Faust ist nicht ratsam. Wir laufen knapp eine Stunde durch Kraut und Rüben, dann stehen wir an der Uferkante. Thomas ruft bei der Shields Marina gegenüber an. Keine 5 Minuten Wartezeit, dann werden mit einem kleinen Katamaran abgeholt und auf die andere Seite gebracht. Schnell und unkompliziert. Wir geben 5,- US€ Trinkgeld für diesen tollen Service und checken gleich noch die Shields Marina aus für nächstes Jahr. Der Liegeplatz im Wasser soll knapp das Doppelte vom Monatspreis in der Lamb’s kosten, ist aber damit immer noch günstig. Die Lage und die Ausstattung sind viel besser, also durchaus eine gute Option am Golf von Mexiko. Der Florida-Trail geht am Nordufer des St. Marks River weiter. Es sind nur etwa 5 Kilometer bis zum Frühstück an einer Tankstelle. Wir brauchen Internet, um unseren Ruhetag zu organisieren. Also Wetterbericht, Unterkunft, Abholung etc. – Alles gut eingetütet, am Nachmittag werden wir in Tallahassee sein. Das ist die Hauptstadt des Bundesstaates Florida mit 200.000 Einwohnern. Motel direkt beim Walmart, genau wie wir es lieben. 🙂 Linda holt uns gegen 14.00 Uhr ab. Schon im Vorfeld hat sie per Text-Nachricht gewünscht, dass wir im Auto Mund-Nasen-Schutz tragen. Das macht sie uns sehr sympathisch, da wir daraus auf ihre politische Ausrichtung schließen können. 😉 Ein Aufkleber an ihrem Wagen bestätigt unsere Vermutung. Was für eine erstaunliche Frau ! Thomas sagt : „Hit of the day“ 🙂 Die Dame ist Mitte 80, fährt völlig souverän Auto, schaut dabei auf ihr Handy mit der Weg-Beschreibung und unterhält sich gleichzeitig mit uns. Sehr gebildet, sie spricht neben ihrer Muttersprache griechisch, polnisch und ein bisschen deutsch. Linda ist Bibliothekarin von Beruf ( gewesen ). Sie hat viele Jahre in Pennsylvania gelebt und dort das AT-Museum eingerichtet. Selber ist sie schon auf dem AT und dem Florida-Trail gewandert, heute ist sie aufgrund ihres Alters natürlich etwas eingeschränkt. Trotzdem verliert sie nicht die Verbindung zu den Hikern und bietet ihre Dienste als Trail Angel an. Linda ist Mitglied in der ALDHA ( Appalachian Long Distance Hikers Association ) – schon seit über 30 Jahren, während wir erst seit 10 Jahren dabei sind. Trail-Name „Earthworm“ = Regenwurm – weil sie beim Wandern so langsam ist. 😉 Linda hat unseren Tag noch besser gemacht. Tolle Frau ! Chapeau. 🙂