Es ist kalt, einfach nur unfassbar kalt. Die Nachrichten sind voll mit Schneesturm-Nachrichten. Inzwischen wird sogar vom „kältesten Winter seit 7 Jahren“ gesprochen. Wer seine Pflanzen im Garten liebt, der schützt sie mit warmen Decken. Das Beste an diesen unterirdischen Temperaturen : Moskitos gibt es nicht mehr. Auch die gefürchteten Zecken sind kein Thema. Wir können gut und gerne drauf verzichten. 😉 Etwa 30 Kilometer sind es bis zu der Stelle, an der wir Donnerstag aufgehört hatten. Wir lassen uns vom Vater des Motel-Betreibers für 30,- US$ zurück zum Trail bringen. Opa hat einen sehr unsicheren Fahrstil, aber er ist wahrscheinlich auch ungefähr 80 Jahre. Schwer zu schätzen, aber wirklich alt. Er ist indischer Abstammung, lebt aber schon seit 35 Jahren in den USA und macht sich täglich von früh bis spät im Motel nützlich. Zunächst laufen wir durch ein Waldgebiet, in dem es erst kürzlich gebrannt hat. Auf einem Schild der Forst-Verwaltung lesen wir, dass die Feuer von extra darauf spezialisierten Leuten ganz gezielt entfacht werden, um das nicht erwünschte Gestrüpp wegzubrennen und mehr Lebensraum für Kleintiere zu schaffen. An einer Sandpiste ist Ende der verkohlten Region. Auf der anderen Seite wächst gesunder Wald, aber auch viel wucherndes Kraut. Sehr interessant, die beiden Waldstücke direkt nebeneinander im Vergleich zu sehen. Anschließend liegt Camp Blanding vor uns, ein Militärgebiet. Durchgang nur mit Registrierung. Wir haben gerade unsere Karten ausgefüllt, als wir feststellen, dass man dort nicht zelten darf. Blöd, denn die Entfernung ist uns eigentlich zu weit, um durch das ganze Gebiet zu laufen und anschließend noch einen Platz für die Nacht zu suchen. Also marschieren wir lieber nicht durch’s Militärgebiet, sondern auf einem kombinierten Fahrrad- und Fußweg neben der Straße. Wir kommen durch Keystone Heights, wo wir letztens im Imbiss die tolle Kimberley kennengelernt haben. Häuser links und rechts, ein Zaun neben dem anderen, alles privat. Dieses Wohngebiet scheint kein Ende zu nehmen. Wir finden lange keine Möglichkeit zum Zelten und laufen eigentlich viel weiter, als uns am ersten Tag lieb ist. Um 19.00 Uhr schlagen wir uns in die Büsche. Mein Knöchel ist schon wieder dick, und das nach nur 5 Stunden Laufen und 20 Kilometern.
Unser Not-Camp an der Straßenecke ist viel besser als erwartet. Lange Nachtruhe, Kaffee-Trinken im Zelt, später Start. Wir möchten nur eine kurze Etappe laufen, also wieder etwa 20 Kilometer. Spruch des Tages von Thomas : „Woran merkt man, dass man auf dem falschen Trail ist ? Wenn man morgens früh an eine Tankstelle kommt und gar nicht weiß, was man kaufen möchte.“ 😉 Im Ernst …. So geht es uns auf dem Florida-Trail. Wir sind viel zu gut in der Versorgung und haben gar nicht diesen Heißhunger auf spezielle Dinge, weil wir eigentlich auf nichts lange verzichten müssen. Seit drei Wochen etwa kommen wir gar nicht mehr richtig raus aus der Zivilisation, haben ungefähr jeden zweiten Tag einen Imbiss oder eine Einkaufs-Möglichkeit auf dem Weg. Das ist zum Teil gut, weil wir nicht viel Proviant tragen müssen, aber es nimmt uns auch einen großen Teil des Long-Trail-Gefühls. Drei Kilometer Straße, dann die erste Pause an einer Tankstelle. Dort lernen wir „Lambo“ kennen, der einen Thru-Hike von Süden nach Norden macht. Genau wie wir, aber wir werden gerade locker überholt. Er läuft erst seit drei Wochen, wir alten Leute 😉 sind jetzt schon die fünfte Woche unterwegs. Lambo stammt aus Littauen, hat acht Jahre auf Hawaii gelebt und ist seit 13 Jahren in den USA. Pandemie-bedingt hat Lambo wenig Arbeit und viel Zeit, dieser junge Mann hat die Chance für sich genutzt. Er macht das Beste draus und läuft gerade seinen dritten Long-Trail in den USA. 🙂 Nach weiteren 8 Kilometern sitzen wir in Hampton an der nächsten Tankstelle, wo wir auch Lambo noch einmal treffen. Der Palatka-Lake Butler-Trail verläuft auf einer ehemaligen Eisenbahn-Strecke. Viele Kilometer lang wandern wir auf einer breiten Fahrspur voller Unkraut und Unebenheiten. Wir staunen nicht schlecht, als uns auf diesem Weg ein Wagen entgegen kommt. Es handelt sich um ein Polaris UTV, ein Multi-Funktionsfahrzeug, das oft für die Landwirtschaft gebraucht wird. Darin sitzen drei Kinder, ungefähr 10-12 Jahre jung, kein Erwachsener. Natürlich ist das nicht erlaubt, selbst in den USA nicht. Der Palatka-Lake Butler-Trail ist keine private Straße, und am Anfang stand ein deutliches Verkehrsschild „No motorized vehicels“. Aber in Florida ist alles möglich, solange man sich nicht erwischen lässt. Die Sonne scheint und wärmt ein bisschen. Das haben wohl auch die Reptilien bemerkt, denn eine ca. einen Meter lange Schlange liegt mitten auf dem Trail. Ich habe sie überhaupt nicht gesehen. Ziemlich dick, oben ganz dunkelbraun wie ein Ast, die Unterseite ist gemustert. Die Schlange hebt ihren Kopf und zischelt mich an, während ich schon so gut wie vorbei bin. Es handelt sich um eine Wasser-Mokassinotter. Davor wurden wir ausdrücklich gewarnt, denn die sind giftig. Bei Gefahr stellen sie sich auf und öffnen das Maul, um Angreifer zu warnen. Dieses Verhalten wirkt sehr aggressiv, ist aber zunächst nur eine Drohgebärde. Thomas knipst ein paar Fotos und macht einen Bogen in respektvollem Abstand.
Wir laufen lange Zeit auf einem Damm, auf dem noch die Steine durchkommen, die früher zwischen den Schienen lagen. Ziemlich holprig, durch die Crocs spüre ich jede Unebenheit. Links und rechts nur Sumpfgebiet, dunkles Brackwasser. Sieht nicht lecker aus, aber wir nehmen trotzdem zwei Liter mit zum Kochen und für den Kaffee am Morgen. Der Palatka-Lake Butler-Trail nimmt kein Ende. Irgendwo nach 20 Kilometern ist auf unserer elektronischen Karte ein Platz zum Zelten eingezeichnet. Wir kommen um 17.00 Uhr dort an, aber das Waldgebiet wurde inzwischen gerodet. Es sieht gar nicht mehr gut aus, keine gerade Stelle. Wir laufen einen Kilometer zurück und finden nach langer Suche einen halbwegs brauchbaren Platz, wo wir das Zelt aufbauen. Unser Nachtlager liegt bei Meile 550 von 1100. Die Hälfte des Florida-Trails ist geschafft. 🙂 Mein Knöchel ist geschwollen, aber es fühlt sich an, als wäre eine Besserung in Sicht. Thomas hat in der zweiten Tageshälfte etwas mehr Probleme gehabt. Es geht irgendwie weiter, aber nicht ganz schmerzfrei.
In der Nacht hat es erneut gefroren. Sternenklarer Himmel und beißend kalt. Wir verkriechen uns mit Daunenjacke tief in den Schlafsack. Morgens früh ist unser Zelt nass, die Schlafsäcke sind feucht. Blöd, auf so einer nackten Stelle ohne den Schutz von Bäumen zu stehen. Der Weg bleibt so, einen besseren Zeltplatz hätte es über viele Kilometer nicht gegeben. Wir folgen weiter dem Palatka-Lake Butler-Trail, immer geradeaus über die steinige Wegspur. Langweilig. Ein Reh, ein paar Vögel und Eichhörnchen, mehr Tiere gibt es nicht zu sehen. Rodung, der dichte Verkehr und die Jäger tragen sicher dazu bei. Wahrscheinlich gibt es bessere Plätze für das Wild. Kurz vor unserer ersten Pause finden wir ein Wasser-Depot. 🙂 Das kommt uns wie gerufen, nachdem wir gestern mit brackigem Sumpfwasser gekocht und heute früh nur einen Kaffee getrunken haben. Trail Magic von Janie, die ihre Telefonnummer auf den Kanistern notiert hat. Thomas bedankt sich per SMS und schreibt ihr eine Nachricht, dass nur noch ein halbvoller Kanister übrig ist. Wir setzen uns zur Pause an die Straße, eine Viertelstunde später fährt Janie vor, um neues Wasser zu bringen. Sie arbeitet seit 20 Jahren als Freiwillige für die Florida Trail Association. Tolle Frau ! 🙂 Sie kommt aus Lake Butler und würde uns im Auto mitnehmen, aber wir möchten auch die nächsten 10 Kilometer entlang der Straße laufen. Florida-Trail komplett, ohne ein Stück auszulassen.
Eine Brücke ist kaputt, so dass wir nicht auf dem Trail zur anderen Seite gelangen können. Es gibt eine Umleitung, die den Weg um 10 Kilometer verlängert und nur über Straßen verläuft. Das Stück entlang der Interstate ist wieder besonders nervig und gefährlich. Kein Rand für Fußgänger – wie immer – dazu auch noch eine Verengung der Fahrbahn an einer Brücke. Auf einem relativ kurzen Stück liegen vier tote Opossums, die Reste eines Gürteltieres, ein zerfetzter Adler und eine überfahrene Hauskatze mit Halsband. Da wird Jemand sehr traurig sein. 🙁 Wir sind froh, als wir diesen Mist hinter uns haben, obwohl auch der Rest nicht zum Jubeln einlädt. Im nächsten Ort soll man kostenlos im Stadtpark zelten dürfen, wenn der Sheriff es gestattet. Thomas ruft im Rathaus an, um dafür die Erlaubnis einzuholen. Kein Problem, wir sind herzlich willkommen ! Nach unserer Pause werden wir von zwei Hikern eingeholt. Die jungen Männer nennen sich „Goose“ und „Lucky Hat“. Sehr interessante Menschen, beide Mitte 30 und voll positiver Ausstrahlung. Lucky Hat stammt aus Canada und möchte mit seinem 6-Monats-Visum drei kurze Trails hintereinander wandern. Goose lebt schon seit 5 Jahren auf den US-Trails, hat weder Wohnung noch Auto, sondern ist nur mit dem Rucksack unterwegs. Wir unterhalten uns blendend und laufen den Rest des Tages zusammen bis nach Lake Butler. Dort beim Deli gönnen wir uns eine warme Abend-Mahlzeit und treffen die beiden Jungs nochmal. Wir bauen unsere Zelte auf der Wiese vor dem Rathaus auf. Es gibt eine Toilette, Wasser, Mülleimer und Picknick-Tische, sogar Steckdosen außen am Gebäude. Was will man mehr ? Im Stadtpark wohnen viele hübsche Katzen mit langem Fell in allen möglichen Farb-Schattierungen. Anscheinend werden die auch gefüttert, denn es liegt Trockenfutter herum. Wir haben heute unser Wunsch-Ziel erreicht. 16 Meilen, mehr als 25 Kilometer, mehr als gestern und vorgestern. Wir sind sehr zufrieden. Es scheint besser zu werden, auf jeden Fall haben wir die „Shin Splints“ im Griff. Die letzten Tage haben wir viel darüber geredet, ob wir diesen Trail überhaupt fortsetzen können. Alternative dazu wäre, mit einem Mietwagen durch’s Land zu fahren und Freunde zu besuchen, um dann später wieder einzusteigen. Jetzt sieht es gerade so aus, als könnten wir weitermachen, zwar mit etwas reduziertem Tempo, aber ohne lange Unterbrechung. Noch ein lustiger Gedanke am Ende eines ereignislosen Tages : Wir sind jetzt schon so lange verheiratet, dass wir uns immer ähnlicher werden, ein bisschen wie Hund und Herrchen. 😉 Inzwischen bekommen wir sogar dieselben Wehwehchen, dasselbe Stress-Syndrom. Thomas hat es einen Tag nach mir erwischt, aber eigentlich leiden wir seit unserem 40-Kilometer-Tag an Knöchel- bzw. Schienbein-Schmerzen. „Shin Splints“ hatten wir bisher noch auf keinem anderen Trail. Das ist ein Überlastungs-Syndrom und tritt recht häufig bei Marathon-Läufern auf. Wir haben uns wirklich ein bisschen zu viel zugemutet. Zu schnell, zu viele lange Tage in Folge, zu wenig Pausen wegen des schlechten Wetters, zum Ende noch ein 40-Kilometer-Tag obendrauf. Damit haben wir das Fass wohl zum Überlaufen gebracht. Nun müssen wir sehr vorsichtig sein und sehen, ob und wie viele Meilen am Tag wir schaffen können, ohne dass sich die Probleme verschlimmern.
Erstaunlich, wie gut wir im Stadtpark geschlafen haben. Die ganze Nacht hindurch fließt der Verkehr, dazu Fest-Beleuchtung, es ist richtig hell im Zelt. Trotzdem fühlen wir uns wohl, haben einen sehr schönen Platz zwischen dicken Bäumen. Danke an die Stadtväter und den Sheriff, die diese Möglichkeit zur Verfügung stellen. Man stelle sich das nur einmal auf Norderney vor …. Zelten auf dem heiligen Rasen beim Rathaus. Dauert wahrscheinlich nur zwei Minuten, bis die Polizei vor Ort ist. 😉 Morgens früh können wir aus dem Zelt heraus zwei Fischadler beobachten, die mit geöffneten Flügeln auf der Wiese stehen, um das wärmende Sonnenlicht einzufangen. Beim Frühstück haben wir unfreiwillig Gesellschaft. Schon beim ersten Gang zu den Toiletten lungert dieser Mann mit Bierflasche in der Hand bei den Picknick-Tischen herum. Ich grüße ihn freundlich und tausche die üblichen Höflichkeitsformeln aus. Zack – schon wird er zutraulich und setzt sich zu uns. John ist irgendwie eine verlorene Seele. Er ist so alt wie wir, 60 Jahre, trinkt schon morgens um 8.00 Uhr Bier aus einer Literflasche, raucht dabei stinkende Zigarillos. Die angebotenen Kekse lehnt er ab, weil er sie ohne Zähne nicht essen kann. Er ist sehr schwer zu verstehen wegen der fehlenden Zähne und dem steigenden Alkoholpegel. John hat viel und schwer gearbeitet, kennt Alles und Jeden im Dorf, scheint auch gar nicht dumm zu sein. Keine Frau ( mehr ), kein ordentliches Zuhause. Irgendwo hat John einmal die falsche Abzweigung genommen im Leben und ist seitdem nicht mehr gesellschaftsfähig. Ich glaube, er ist froh, dass wir ihn nicht schneiden oder abfällig betrachten. Wir halten das Gequatsche länger als eine Stunde aus, dann verabschieden wir uns mit den besten Wünschen. Vor uns liegt wieder ein ellenlanger Marsch an vielbefahrenen Straßen. Blöd, zum Schlechte-Laune-Bekommen. 🙁 Nach 2,5 Stunden entlang der Interstate haben wir schon 12 Kilometer hinter uns gebracht. Pause im Schatten eines Baumes auf dem Gelände der Freiwilligen Feuerwehr. Wir müssen einen Graben überqueren, um dorthin zu gelangen. Da liegt ein erst kürzlich überfahrenes Reh und raubt uns fast den Appetit. 🙁 Abzweigung von der Interstate in eine breite Straße, in der wir dauernd von Schwertransportern der Holz-Industrie eingestaubt werden. Weiter geht es einige Kilometer auf breiter Sandpiste, dann über eine Fahrspur im Wald. Schon besser.
Ein Sumpfloch blockiert unseren Weg, die Forststraße steht in voller Breite unter Wasser. Tief ist es auch, wie wir mit unseren Stöckern ertasten. Am Rande steht dichtes Gestrüpp, ein paar dünne Baumstämme zum Festhalten …. Wir kommen trockenen Fußes daran vorbei, indem wir uns in die Pflanzen hängen. Das ist die erste Hürde des Tages. Später kommt noch eine weitere schwierige Stelle, eine zerfallene Holzbrücke über 100 Meter Länge. Die ist so morsch, dass ich Bedenken habe, ob sie hält. Thomas meint : „Das Holz ist noch gut.“ Ich sehe das anders. Splitterig, Löcher drin, manchmal fehlen halbe Bohlen. In ein paar Jahren wird davon nur noch Sägemehl und Staub übrig sein. Thomas geht vor, denn der wiegt ein paar Pfund mehr als ich. Scheint zu klappen, die Brücke hält, wenn man auf den richtigen Stellen belastet. Ich folge ihm, ohne dass wir im schmutzigen Fluss darunter landen. Kurz vor der Dunkelheit erreichen wir die Grenze zum Osceola National Forest. Wir suchen einen Zeltplatz, aber heute sieht es zu beiden Seiten schlecht aus. Links stehen Kiefern in Reih und Glied, wie mit dem Lineal gezogen. Das ist kultivierter Wald für die Forst-Wirtschaft. Hohe Bodenwellen und dichtes Unkraut lassen keine Stelle erkennen, die für uns in Frage kommt. Zur rechten Seite wurde der Wald per Brand-Rodung gelichtet. Das bedeutet, der Boden, die Baumstämme, selbst die stehengebliebenen Pflanzenteile sind schwarz von Ruß. Und Pieker gibt es ohne Ende. Die Spitzen der abgebrannten Palmetto-Palmen oder anderes Stachelzeug warten nur darauf, unsere Luftmatratzen zu zerstechen. Nützt nichts, damit müssen wir jetzt leben. Es sieht nicht aus, als ob sich die Landschaft in der nächsten Zeit ändern wird. Außerdem wird in diesem Gebiet vor Jägern, Hunden, Zecken, Bären und verdächtigen Gestalten gewarnt. Klingt gar nicht nett. 🙁 Wir bauen im Dunkeln das Zelt auf und legen alles Mögliche unter die Matten : Ponchos, Regenjacken, Daunenjacken, unsere Hiking-Sachen und alles, was der Kleidersack sonst noch hergibt. Hoffen wir mal, dass uns nicht Beiden die Luft ausgeht, denn so viel Flickzeug haben wir nicht mehr. 17 Meilen, 27 Kilometer. Ich laufe immer noch mit Crocs, die Wanderschuhe drücken an den empfindlichen Stellen. Aber wir können laufen, die Beschwerden werden weniger. 🙂
Schöner Sonnenaufgang um 7.00 Uhr. Toller Blick aus dem Zelt, der neue Morgen präsentiert sich in Pastell-Farben. Rosa Wolkenschleier vor einem hellblauen Himmel, davor stehen die schwarzen Silhouetten der verkohlten Kiefern. Dieser Kontrast ergibt eine ganz besondere Stimmung. Unsere Iso-Matten haben die Nacht anscheinend überlebt. Die von Thomas verliert ein bisschen Luft, aber das bereits seit längerer Zeit. Unser Zeltboden hat ein paar neue Löcher von den Piekern der abgebrannten Pflanzen. Macht nichts, das Zelt ist sowieso hinüber. Zunächst ändert sich das Gelände kein bisschen. Zur linken Seite gerade Reihen von Bäumen, dazwischen Bodenwellen und undurchdringliches Kraut. Rechte Seite gerodet, schwarz, ein etwas trauriger Anblick. Nach gut zwei Stunden dürfen wir in den Osceola National Forest eintauchen. Vor uns liegt ein schmaler Pfad auf Kiefernnadeln und weichem Moos. Wunderbar ! 🙂 Man hört zwar den vierspurigen Highway, was das Natur-Erlebnis etwas schmälert, trotzdem genießen wir diesen Waldweg. Pause an der Osceola-Shelter. Das ist die älteste Schutzhütte auf dem Florida-Trail, sehr gut erhalten bzw. restauriert.
Danach bekommen wir noch richtig Spaß. Der Trail ist feucht und matschig, oft steht das Wasser knöcheltief. Es folgt eine Passage, die man eigentlich nicht gehen sollte. In unserem Handbuch steht, dass es dort eine Umleitung gibt. Wir verpassen diese Abzweigung und sind plötzlich mitten drin. Ein großes Wasserloch können wir durch Balancieren am Rand entlang umgehen. Kurz darauf steht der Trail wieder komplett unter Wasser, es sieht sogar ziemlich tief aus. Wir turnen außen herum, nur ein Fuß landet im Matsch. Die nächste Wasserstelle blockiert uns in voller Breite, da gibt es kein Ausweichen. Thomas hat eine kurze Hose an, er stapft ohne Zögern mit seinen Schuhen durch. Ich krempele die Hose bis zum Knie hoch, ziehe meine Strümpfe aus und laufe barfuß in Crocs. Eine halbe Stunde bleibt der Weg gut. Ich habe gerade die Socken wieder angezogen, da stehen wir erneut vor einem ausgiebigen Schlammloch. Also durch, ab jetzt brauchen wir gar nicht mehr aufpassen. Auch im weiteren Verlauf wären die Schuhe nicht trocken geblieben, denn das Moos ist vollgesogen mit Wasser. Im Sumpf zwischen hohen Cypressen steht ein „Wood Stork“, ein Wald-Storch. Er ist die einzige Storchenart, die auch in Nordamerika brütet und ist dort der größte Schreitvogel. Lange Zeit galt er in den USA als bedrohte Vogelart, seit 2014 gilt sie nur noch als gefährdet. Der Storch erhebt sich elegant und fliegt zwischen den Stämmen hindurch davon. Erstaunlich, dass er nirgends anstößt mit seiner großen Flügel-Spannweite. Am Nachmittag durchqueren wir eine verbrannte Region, wo überhaupt kein neues Grün sprießt. Das Feuer scheint noch nicht lange her zu sein, es riecht verkohlt. Und es kommt uns so vor, als wäre es keine gewollte Brand-Rodung, sondern außer Kontrolle geraten. Das Gebiet ist ziemlich ausgedehnt, und beide Seiten des Trails sind betroffen. Mehrere Holzbrücken über dem Sumpf sind angekokelt, oder ganze Elemente fehlen. Das kann doch keine Absicht gewesen sein.
In den Brücken sind richtige Lücken drin, oder Teile der Konstruktion hängen schief, kurz vor dem Abgang. Wie auf einer Wippe kippt das Element nach vorne, wenn man drauftritt. Zwei Schritte weiter belastet man das andere Ende, und die Wippe senkt sich nach unten. Witzig, uns gefällt es. 🙂
Kurz darauf müssen wir über eine Art Schwebebalken balancieren, erinnert an den Turn-Unterricht. Nun wissen wir auch, warum man eigentlich nicht durch dieses Stück wandern sollte. Auf jeden Fall ein richtiger Trail und noch nicht aufgeräumt. Für uns ist es ein sehr abwechslungsreicher Nachmittag, wir finden solche unerwarteten Hindernisse immer spannend. Abendessen beim West Tower Camp, wo uns aber zu viel los ist. Dauer-Camper, Jäger, lautes Hundegebell, hier sollen auch die „verdächtigen Gestalten“ wohnen. Wir marschieren noch ein Stündchen weiter. Über die Hälfte des Weges hören wir die bekloppten Hunde kläffen und sind froh, dass wir uns entfernen. Die Schuhe werden auf’s Neue nass. Knöcheltiefer Matsch auf den letzten Metern. Durch einen Kommentar in unserer Handy-App finden wir ein trockenes Stück Wiese für unser Nachtlager. Ein Kilometer abseits des Trails, aber der Umweg lohnt sich für einen guten Platz. Ich opfere einen Liter von unserem Kaffee-Wasser zum Füßewaschen, morgen wird es dann nur einen Kaffee geben. Es ist wärmer geworden, und wir stecken mitten im Sumpfgebiet. Ein paar Moskitos haben die Kälte überlebt und produzieren gleich wieder Stress. Beim Zähneputzen kassiere ich etwa ein Dutzend Stiche. 29 Kilometer geschafft, jeden Tag etwas mehr, leichte Schwellung, aber keine Schmerzen. Ich bin wieder den ganzen Tag mit meinen Crocs gelaufen und habe die dicken Wanderschuhe im Rucksack getragen. Unsere Reise von Süd nach Nord ist fertig. Wir machen jetzt einen Winkel von 90° und laufen die zweite Hälfte von Ost nach West bis nach Pensacola, nahe der Grenze zu Alabama.
Der Osceola National Forest ist der kleinste der drei National Forests. Nur noch eine Stunde am frühen Morgen, dann sind wir raus. Schöner Mischwald. Der Pfad ist ein bisschen matschig, aber die Schuhe bleiben weitgehend trocken. Unterwegs sehen wir Campingplätze ohne Ende …. also den Umweg gestern Abend hätten wir uns sparen können. Am Deep Creek Trailhead ist Ende dieser Sektion, wir können die neue Karte laden. Nach dem Osceola laufen wir über Straßen bis Milton’s Country Store. Sehr freundliche Bedienung, es gibt Frühstück nach guter Hausfrauen-Art. Internet funktioniert nicht. Schade. Wir dürfen unser Handy an der Steckdose laden und ziehen danach gut gestärkt weiter. Straße, Straße, Straße ….. Dann endlich führt uns der Florida-Trail zurück in die Natur. Die neue Sektion heißt „Suwannee River“. Was für eine tolle Landschaft ! 🙂 Satt-grüne Palmetto-Palmen stehen hier in voller Pracht. Die sind nicht vertrocknet oder erfroren, sondern sehen wunderbar gesund aus. Unser Pfad windet sich entlang des Suwannee River, mal auf der einen und mal auf der anderen Seite des Flusses. Abenteuerliche Holzbrücken erleichtern den Seitenwechsel. Man hört sie schon von Weitem : Stromschnellen der Stärke 3. Das Wasser brodelt. Hier treffen wir auf zwei Männer, die mit ihren Kanus im Bundesstaat Georgia gestartet sind. An dieser Stelle tragen sie ihre Kanus und ihre Ausrüstung, bis sie ausreichend Abstand von den Stromschnellen haben.
Die höchste Steigung auf dem gesamten Florida-Trail liegt vor uns, ein kleiner Hügel am Flussufer. Es geht tatsächlich steil bergauf, dann eine Serpentine, noch ein wenig höher bis zu einem Picknick-Tisch mit grandioser Aussicht auf den Fluss. Absolut lohnenswert, einfach uneingeschränkt schön. Der Wetterbericht für heute Nachmittag sagt : Regenwahrscheinlichkeit 96 %. Um 16.00 Uhr beginnt es zu tröpfeln. Um 17.00 Uhr hat es sich richtig eingeregnet. Dauert nicht mehr lange, dann erreichen wir den Highway nach White Springs, einem kleinen Ort mit knapp 800 Einwohnern. Das Städtchen gefällt uns ausgesprochen gut. Hübsche Häuser mit Veranda, gepflegte Gärten, die mit Figuren und sonstiger Deko sehr individuell gestaltet sind. Das sieht nach jungen Familien und netter Nachbarschaft aus. Unser erster Gang führt in den Dollar General, wo es die Standard-Artikel sehr günstig gibt. Im Laden treffen wir auf Goose und Lucky Hat, die wir vor einigen Tagen kennengelernt haben. Die Beiden haben sich einen off-day gegönnt und empfehlen uns wärmstens das Bed & Breakfast im Dorf. Aber wir haben andere Pläne. Kaufen im Billigladen zwei Dosen rote Bohnen, Käse, Tortilla-Chips und Bier. Gleich nebenan gibt es einen Spielplatz mit überdachten Bänken. Dort kochen und essen wir, danach laufen wir noch knapp eine Stunde weiter bis in den Stephen Foster State Park. Am Eingang steht etwas von Benutzungsgebühr, also soll man für das Durchlaufen bezahlen. Eigentlich wird der Park sowieso schon ab 18.30 Uhr geschlossen, es ist bereits nach 19.00 Uhr. Die Schranke für Autos ist zu, aber als Fußgänger kommen wir auch im Dunkeln noch durch. Es ist ein bisschen schwierig, den Pfad zu finden, weil man die Markierungen nicht mehr erkennen kann. Fünf Frösche sehen wir auf dem kurzen Weg bis zu unserem Nachtlager, darunter drei winzig kleine Baby-Frösche. Denen gefällt das nasse Wetter. Um 20.00 Uhr steht das Zelt. Wir haben beide Ponchos als Schutz außen über das Dach gelegt. Eine halbe Stunde später regnet es. Hoffen wir mal, dass wir die Nacht trocken überstehen.
Heftiger Regen bis um Mitternacht. Es prasselt auf’s Zeltdach und tropft nach einer Viertelstunde durch die beiden Ponchos und durch die Zeltplane. Oben hat sich eine Mulde gebildet, in der sich das Wasser sammelt und durchläuft. Dauert nicht lange, dann werden unsere Schlafsäcke nass. Wir entkoppeln und rutschen so weit auseinander, dass die Tropfen in der Mitte zwischen uns landen. Nachts taste ich nach meinem Beutel mit den Wertsachen. Der liegt in einer Pfütze und ist von außen nass, aber zum Glück ist er wasserdicht. Dem Handy ist nichts passiert. Morgens in aller Frühe hören wir die Stimmen von Goose und Lucky Head. Die Beiden haben sich gestern einen Ruhetag gegönnt und sind bereits um 6.00 Uhr unterwegs, um extra viele Meilen zu schaffen. Es ist noch stockfinster, die Jungs sehen unser Zelt gar nicht. Wir stehen erst zwei Stunden später auf. Draußen ist es feucht und kalt, wir laufen gut angezogen los. Zunächst führt unser Weg entlang der Abbruchkante oberhalb des Flusses. Es geht hinauf und hinunter, wir freuen uns über den abwechslungsreichen Trail. Mehrere Seitenarme vereinigen sich mit dem Suwannee River. Wir wandern mal oben auf einer Böschung mit Blick hinunter auf den Fluss, dann geht es tief hinab bis ans Ufer. Auf Brettern oder Baumstämmen klettern wir über den Zufluss, dann auf der anderen Seite erneut auf den Damm. Der Suwannee River fließt mit einer Gesamtlänge von 426 Kilometern durch die US-amerikanischen Bundesstaaten Georgia und Florida und mündet dann in den Golf von Mexiko. Gegen 13.00 Uhr kommt für ein Stündchen die Sonne raus. Wir erklimmen eine Düne neben dem Trail und entdecken einen kleinen Sandstrand. Das passt wunderbar für die Mittagspause. Wir packen alle unsere Sachen aus und breiten sie zum Trocknen aus.
Bleibt leider nicht lange schön, bald zieht es sich zu und wird kühl. Ein bisschen zu frisch ist es, um die Pause entspannt zu genießen. Den ganzen Tag laufen wir ununterbrochen in der Natur und haben nur einen einzigen Jogger am Morgen gesehen. Leider sind ständig Verkehrsgeräusche zu hören. Ein dicker Baumstamm liegt auf den Stahlträgern einer Autobahn-Brücke, etwa 10 Meter über dem aktuellen Wasserspiegel. Das gibt uns eine ungefähre Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn der Fluss richtig Hochwasser führt. Der Nachmittag bleibt grau, es sieht nach Regen aus. Wir beeilen uns, damit wir das Zelt noch im Trockenen aufbauen können. Rechts von unserem Weg folgt eine Strecke mit Privat-Schildern. Ein sehr exklusives Wohngebiet am Suwannee River mit riesigen Grundstücken. Die Häuser stehen auf dicken Säulen aus Beton in mindestens 15 Metern Höhe. Mehrere Gebäude innerhalb eines Zauns, so wie Haupthaus, Häuschen für Dienstboten und Schuppen sind durch ebenso hohe Brücken miteinander verbunden. Das sieht wirklich verrückt aus. Anscheinend sind die Menschen sehr gut vorbereitet auf eventuelle Hochwasser-Stände. Nicht weit entfernt von unserem geplanten Ziel entdecken wir einen überdachten Picknick-Tisch. Guter Platz für’s Abendessen, genug Wasser gibt es im Fluss. Mitten im Koch-Vorgang geht das Gas aus. Unsere Nudeln sind und bleiben ein bisschen „Al dente“. Kaffee gibt es dann morgen früh wohl auch nicht. Die Schuhe von Thomas sind kaputt, die Sohle löst sich vom Rest. Lange haben sie gehalten, die waren schon auf dem CDT und zum Schnee-Wandern in der Schweiz.
Ohne Kaffee haben wir innerhalb einer Viertelstunde das Zelt abgebaut und unsere Rucksäcke gepackt. Gleich nach dem Start geht es abwärts. Unten im Einschnitt fließt ein Bach mit kristallklarem Wasser. Auf einem Baumstamm balancieren wir auf die andere Seite. Es folgt ein steiler Anstieg, also steil für Florida-Verhältnisse. 😉 Eine Weile führt der Trail oben auf der Böschung weiter, immer mit Blick auf den Fluss zwischen Wänden aus Sandstein. Dann geht es den Hügel wieder hinunter, noch einmal auf einem morschen Balken über einen Zulauf und vorbei an einer breiten Sandbank. Der Weg um den Suwannee River ist wirklich schön, leider spielt das Wetter nicht so richtig mit. Nach zwei Stunden erreichen wir die Kreuzung, an der wir vom Trail ausscheren wollen. Eine Brücke unter dem Highway ist farbenfroh bemalt. Die Old US129 Bridge wird „Hippie-Brücke“ genannt. Da waren viele kreative Menschen am Werk. Uns gefällt die bunte Graffiti, es wirkt fröhlich und macht gute Laune.
Wir malen ein Schild aus Pappe mit unserem Zielort und hoffen, dass ein Auto anhält. Nach einer halben Stunde im Nieselregen frieren wir und beschließen, dass wir die 8 Kilometer bis nach Live Oak zu Fuß zurücklegen. Drei tote Waschbären liegen am Rand. 🙁 Laufen entlang vielbefahrener Straßen gefällt uns immer noch nicht. An einer Kreuzung ist ein Stand mit Feuerholz und „Boiled Peanuts“ aufgebaut. Thomas freut sich über eine Unterbrechung des langweiligen Marsches. Originalton : „Da ist ein Mensch. Mit dem möchte ich mich unterhalten.“ Auch der Verkäufer ist nicht abgeneigt über eine Ablenkung an diesem grauen Tag. Die Männer schwatzen eine Weile über das Wetter und gekochte Erdnüsse. 😉 Dann Endspurt, die ersten Gebäude sind schon in Sicht. Um 13.00 Uhr erreichen wir Live Oak. Auf eigenen Füßen kommen wir garantiert rechtzeitig an, das ist zeitlich viel besser zu kalkulieren als Warten auf eine Mitfahrgelegenheit. Noch viel zu früh zum Einchecken, also erstmal zum Walmart. Dort bekommen wir einfach ALLES. Neue Schuhe, Gas-Kartusche, Kosmetika in Reise-Größe, Essen und Trinken. Danach einmal auf die andere Straßenseite und „All you can eat“ beim Chinesen. Die Econo Lodge liegt direkt daneben und ist das günstigste von drei Motels im Ort. Florida ist teuer. 🙁 Das Wetter am Sonntag bleibt feucht und kalt. Wir sind froh, dass wir nicht im Zelt schlafen. Ruhetag macht absolut Sinn. Nicht so viele Meilen wie sonst, aber immerhin sind wir nach einer Woche 200 Kilometer weiter und haben anscheinend das richtige Maß gefunden. Die „Shin Splints“ verursachen keine Beschwerden mehr.
Unser Aufenthalt in Live Oak ist sehr erfolgreich. Friseur und Kosmetikerin sind ganz in der Nähe und kümmern sich ganz ohne Termin um unser Äußeres. Der letzte Haarschnitt ist schon lange her, das war im Sommer auf den Azoren. ( Danke, Marita 😉 ) Nur die Post ist etwas weiter entfernt, fünf Kilometer Fußweg hin und dasselbe wieder zurück. Aber der Weg lohnt sich, denn wir werden eine Menge unnützes Zeug los. Ich schicke meine schweren Wanderschuhe weg, außerdem drei Paar Socken und allerlei anderen Kram. Thomas sortiert auch noch einmal aus. Das Paket geht an unsere mexikanische Austausch-Schülerin Leslie. Wir haben sie 14 Jahre nicht gesehen, dieses Jahr ist auf jeden Fall ein Treffen geplant. 🙂